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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Die erste Maschine ist nur zu einem Drittel besetzt, alles sind Einzelreisende, Geschäftsleute wie er, die beruflich unterwegs sind. Keiner redet, keiner schaut auf, jeder ist stumm mit seinen Papieren oder dem Laptop beschäftigt. Als das Flugzeug am Gate in Düsseldorf stehenbleibt, springen fast alle sofort auf und drängen zum Ausgang. In der Gepäckhalle sieht er auf einem der großen Bildschirme, dass sein Anschlussflug nach Basel Verspätung hat, sechzig Minuten liest er, und während er verärgert auf den Bildschirm starrt, wird die Zeile gelöscht, die Lampen blinken nervös, und dann steht dort fünfundsiebzig Minuten. Er setzt sich in ein Café und bestellt ein kleines Frühstück, dann schaut er auf die Armbanduhr und ruft in Basel an. Gotthardts Sekretärin meldet sich, er teilt ihr mit, dass er in Düsseldorf festsitzt, und fragt, ob die Schule einen Wagen zum Flughafen schicken könne oder ob er sich ein Taxi nehmen solle. Ein Auto besitze die Schule nicht, sagt sie ihm, aber ein Taxi könne er sich sicher nehmen, freilich könne sie ihm keine verbindliche Auskunft geben, der Chef sei noch nicht im Haus, aber in der Vergangenheit sei das immer möglich gewesen. Er bittet sie, Gotthardt möge ihm eine Nachricht schicken, wenn er ins Haus komme, sobald er in Basel gelandet sei, werde er sein Handy anschalten und dann sehen, wie die Schule entschieden hat. Notfalls müssten die Studenten halt warten.
    Sein Anschlussflieger nach Basel startet mit eineinhalbstündiger Verspätung. Stolzenburg schaut aus dem Fenster, er denkt an Henriette, an Judith und an die verrückte Lilly. Er muss noch an Jürgen Richter schreiben, den Verleger will er nicht aus den Augen verlieren, er war so wunderbar schräg und abgedreht, vielleicht gelingt es ihm doch, ihn für die Ausgabe zu gewinnen. Stolzenburg lehnt den Kopf ans Fenster und starrt in die Wolken. Welche Einwände dieser Jürgen Richter auch vorgetragen hat, er muss den Weiskern in seinem Verlag herausbringen. Er ist der einzige Mensch in Deutschland, der außer ihm selbst mit dem Namen Weiskern etwas anfangen kann, der sogar über ihn promoviert hat. Und er ist Verleger, und damit geradezu prädestiniert, seine Ausgabe herauszubringen. Zwei Bände, sagte er, sechzehnhundert Seiten, das ist zu schaffen. Er muss sich in seiner Einleitung kurz fassen, er muss bei den Texten auswählen, aber das sind keine unüberwindlichen Hürden. Die Ausgabe würde dem Verlag kein Geld einbringen, gewiss, aber Richter könnte sich damit schmücken, diese zwei Bände wären ein kleines Ereignis auf der Buchmesse, eine wissenschaftliche Großtat, über die die Zeitungen berichten würden, berichten müssten. Alle Zeitungen, jedenfalls die großen. Er müsste ein paar Interviews geben, durch das Land reisen. Das Mozarteum wird ihn einladen, das ist sicher, Salzburg kann er schon jetzt fest einplanen. Und ein paar große Opernhäuser in der Welt werden diesen Librettisten eines Mozart auch nicht übersehen. New York, Sydney, Paris, das eine oder andere Haus wird ihn um einen Vortrag bitten. Und irgendwelche Mozartgesellschaften, ein paar ältere, betuchte Herrschaften werden mit Freuden seinen Ausführungen über Weiskern lauschen und bewundernd zuhören, wenn er von seinen Schwierigkeiten berichtet, die historischen Dokumente aufzuspüren. Und die topographische Gesellschaft in London wird die Verdienste eines Weiskerns auch nicht mit Schweigen übergehen, die erste Beschreibung der kaiserlich-königlichen Haupt- und Residenzstadt Wien. London wird ihn einladen, und er wird über Topographie sprechen, dafür hat er sich ein, zwei Wochen lang vorzubereiten, Topographie hat er nicht studiert, hat sich nur wegen Weiskern damit befasst. Er seinerseits wird mit der Ausgabe auch kein Geld verdienen, er muss froh sein, wenn er einigermaßen seine Unkosten hereinbekommt, aber diese zwei Bände sind so etwas wie sein Lebenswerk. Die Belegexemplare werden in seinem Arbeitszimmer stehen, zwei Bände, leinengebunden, vielleicht in einem attraktiven Schuber. Eine prächtige Ausgabe, eine beeindruckende Leistung. Gelegentlich nimmt er sie aus dem Regal, blättert in ihr, liest seinen Namen. Er wird mehrfach in den beiden Bänden genannt, er ist der Herausgeber, er ist der Autor des Vorworts, und nicht zuletzt hat er das ausführliche Personen- und Sachregister erstellt, das eine aufwendige Recherche verlangt hat, ein halbes Jahr hat er mit diesem Register zu tun gehabt. Im Vorwort erzählt er mit
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