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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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genommen worden.
    Nach der Landung in Basel wird er sein Handy einschalten, um zu sehen, ob Gotthardt eine Nachricht hinterlassen hat. Anderenfalls wird er im Sekretariat anrufen, sie sollen ihm mitteilen, ob er sich am Flughafen ein Taxi nehmen soll oder die Studenten zu warten haben. Soll Gotthardt entscheiden, er jedenfalls ist nicht bereit, von dem schmalen Honorar auch noch die Taxikosten zu bestreiten.
    Am Abend wird er zurückfliegen. Hoffentlich landet er ohne Verspätung. Morgen wird er mit der Bank sprechen, zumindest einen Termin mit ihr ausmachen. Er wird auf einen Anruf von Henriette warten, er wird sie nicht anrufen, sie muss sich entscheiden. Sie hat überzogen, hysterisch reagiert. Und ihre schweigsame FreundinCarola, was ist das für eine Frau? Und was ist das für eine Freundschaft? Carola ist ihm höchst unangenehm. Er hofft, sie nicht mehr zu sehen. Er hofft, dass es mit Henriette etwas wird. Er ist bereit, nachzugeben, ihr entgegenzukommen, aber er will wissen, wie ernsthaft es für sie ist. Er hat jahrelang allein gelebt, er ist daran gewöhnt. Wechselnde, kurze Verhältnisse, das hat auch seinen Reiz. Man hat keine Verpflichtungen. Man sieht sich, man isst miteinander, man schläft zusammen. Ansonsten guten Tag und guten Weg. Zieht eine Frau bei ihm ein, hat er Rücksicht zu nehmen, Rücksicht auf sie, auf den ganzen Rattenschwanz von Verwandtschaft, der dranhängt. Kinder hat Henriette nicht, das erleichtert vieles. Er muss sich nicht anstrengen und ihre Kinder beeindrucken. Oder bei Dummheiten und Katastrophen einspringen. Judith reicht ihm. Sie ist wütend auf ihn, aber er kann ihr kein Geld geben. Schon gar nicht dreitausend. Sie ist wütend und wird sich vorerst nicht bei ihm melden, aber er ist sicher, in spätestens einem Jahr ruft sie wieder an. Sie wird dann einen neuen Freund haben, der sich ebenfalls irgendwo in der Welt für Unterdrückte einsetzt. Und der von undurchsichtigen Geschäften lebt. Und sie wird Geld brauchen. Vielleicht ist der nächste Freund etwas jünger als der Argentinier. Vierundfünfzig, das ist das Alter ihres alten Herrn. Das sollte nicht das ihres Freundes sein, sie ist schließlich erst dreißig. Ihm fällt Lilly ein, die ist erst zweiundzwanzig und er selbst Ende fünfzig. Nein, das ist nicht zu vergleichen. Mit Lilly, das soll natürlich keine Beziehung werden. Das will keiner, Lilly nicht, er erst recht nicht. Nein, das wird allenfalls eine Affäre, vielleicht. Judith und der alte Argentinier, Carlos heißter, wenn er sich recht erinnert, das ist etwas anderes. Diese Lilly, sie ist niedlich, aber vermutlich ausgekocht. Und eiskalt. Ihr Auftritt war zu perfekt, zu gut überlegt. Eine Darbietung mit Dramaturgie. Alles fein gesetzt, jeder Augenaufschlag im Voraus einstudiert, das Mädchen macht ihm Spaß. Sie verspricht vergnüglicher zu werden als Annika Wöble. Aber er will es nicht, er will nichts mit ihr. Und er kann nur hoffen, dass er ihr das ausreichend klargemacht hat. Anderenfalls wird er sich Ärger einhandeln. Lilly braucht hinterher nur ein paar Andeutungen machen, und er wäre geliefert. Nein, bei Lilly wird er nicht nachgeben. Das wäre eine Dummheit, die er irgendwann bereut. Bei Judith hat er nicht gezögert, gottlob. Er wird ihr kein Geld geben, er kann es gar nicht. Auch nicht in einem Jahr. Vermutlich wird er auch in einem Jahr ein Konto haben, das kurz über oder unter null ist. Die kleinen Nebeneinnahmen sind in den letzten fünf Jahren immer weniger geworden. Zusätzliche Honorare werden selten, in den Redaktionen wechselten die Leute. Seine alten Bekannten sind in Pension, eine neue Generation besetzt die entscheidenden Stühle. Junge, aufstrebende Alleskönner und Alleswisser. Mit seinem Namen können sie nichts anfangen. Die begehrten Aufträge schanzen sie ihren Vertrauten zu. Und es wird so weitergehen, weiter abwärts. Die kleinen Aufträge der Zeitungen und der Funkstationen, so dürftig wie unentbehrlich, schwinden von Jahr zu Jahr. Er muss sich auf das spärliche Gehalt einer halben Stelle einrichten. Eine volle Stelle wird er nie bekommen, nicht bei Schlösser und nirgends woanders. Er ist neunundfünfzig, ein Alter, in dem man nicht mehr mit einer Versorgung rechnen darf. Die einzige größere Summein Reichweite heißt Sebastian Hollert, doch er ist entschieden. Er wird auf Hollerts Angebot nicht eingehen, keinesfalls, auf diese Art will er nicht zu Geld kommen. Er hat es bisher geschafft, einigermaßen sauber durch die Welt
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