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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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VORREDE DES VERFASSERS DER «MEMOIREN EINES MANNES VON HOHEM STAND»
    Obgleich es mir möglich gewesen wäre, die Abenteuer des Chevalier des Grieux in meine Memoiren aufzunehmen, schien mir, es sei für den Leser angenehmer, wenn er sie als eigenständiges Werk zu sehen bekäme, denn es besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen beiden. Ein Einschub von derartigem Umfang hätte eine allzu lange Unterbrechung meiner eigenen Geschichte bedeutet. Bin ich auch weit von dem Anspruch entfernt, ein genauer Berichterstatter zu sein, so ist mir doch nicht unbekannt, dass eine Erzählung von Umständen bereinigt sein sollte, die sie schwerfällig und kompliziert machen könnten. Horaz hatte folgende Maxime:
    Ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici
    Pleraque differat, ac praesens in tempus omittat. 1
    Dabei bedarf es für eine derart schlichte Wahrheit nicht einmal einer solch gewichtigen Autorität, entspringt diese Regel doch zuallererst dem gesunden Menschenverstand.
    Wenn meine Lebensgeschichte beim Publikum Gefallen erregt und Interesse gefunden hat, dann wage ich zu behaupten, dass es mit dieser Ergänzung nicht weniger zufrieden sein wird. Der Leser mag im Verhalten von Monsieur des Grieux ein abschreckendes Beispiel für die Macht der Leidenschaft erblicken. Ich möchte hier einen jungen Mann in seiner Verblendung schildern, der sich dem Glück verweigert und sich stattdessen aus freien Stücken ins äußerste Verderben stürzt; der sich trotz aller Voraussetzungen für glänzendste Verdienste dafür entscheidet, den Vorzügen von Wohlstand und Natur zugunsten eines unbedeutenden und unsteten Lebens zu entsagen; der seine Missgeschicke vorhersieht, sie jedoch nicht verhindern will; der sie durchaus als solche empfindet und sich von ihnen niederschmettern lässt, ohne dass er die Hilfe annähme, die er immer wieder wahrnehmen und mit der er dem Unheil jederzeit ein Ende setzen könnte; kurz, ein zwiespältiger Charakter, eine Mischung aus Tugenden und Lastern, ein ständiger Gegensatz von guten Absichten und schlechten Taten. Das ist der Grundton des Gemäldes, das ich hier biete. Wer gesunden Menschenverstand besitzt, wird ein solches Werk nicht als unnütze Mühe ansehen. Über das Vergnügen einer angenehmen Lektüre hinaus wird man darin kaum Ereignisse finden, die nicht als Anleitung zu sittlichem Lebenswandel dienen können; und meiner Meinung nach leistet man dem Publikum einen beträchtlichen Dienst, wenn man es auf amüsante Weise anleitet.
    Man kann über Gebote der Sittlichkeit nicht nachdenken, ohne darüber zu staunen, wie sehr sie zugleich geschätzt und missachtet werden; und so stellt sich die Frage nach dem Grund für diese Absonderlichkeit des menschlichen Herzens, die es Gefallen finden lässt an ebenjenen Vorstellungen des Guten und der Vollkommenheit, von denen es sich in der Lebenspraxis entfernt. Wenn Personen eines gewissen Ranges an Geist und Anstand untersuchen wollten, welches das alltäglichste Thema ihrer Gespräche und selbst ihrer einsamen Träumereien ist, würden sie unschwer feststellen, dass es sich dabei fast immer um irgendwelche sittlichen Erwägungen handelt. Die erbaulichsten Momente ihres Daseins erleben sie, wenn sie, allein oder in Gesellschaft eines Freundes, freimütig über den Reiz der Tugend nachdenken, über die Wonnen der Freundschaft und über die Wege, das Glück zu erlangen, und ebenso sehr über die Schwächen der Natur, die uns davon entfernen, sowie über die Mittel, diesen beizukommen. Für Horaz und Boileau gehört diese Beschäftigung als eines der schönsten Elemente zum Bild eines glücklichen Lebens.
    Wie kann es dann geschehen, dass man so leicht von diesen hochherzigen Spekulationen herabstürzt und sich alsbald auf dem Niveau der gewöhnlichsten Menschen wiederfindet? Ich müsste irren, wenn der Grund, den ich anführen werde, diesen Widerspruch zwischen unseren Vorstellungen und unserem Verhalten nicht einigermaßen erklären würde; da alle Gebote der Sittlichkeit nur ungefähre und allgemeine Prinzipien sind, ist es nämlich sehr schwer, sie im einzelnen Fall auf Lebenswandel und Handlungen anzuwenden. Betrachten wir die Sache anhand eines Beispiels. Wohlgeborene Gemüter empfinden Sanftmut und Menschlichkeit als liebenswerte Tugenden, und sie sind von der Neigung erfüllt, sich dementsprechend zu verhalten; doch wenn es gilt, diese Tugenden in die Tat umzusetzen, werden sie oftmals hintangestellt. Ist es wirklich der rechte Moment? Weiß man
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