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Ich, Gina Wild

Ich, Gina Wild

Titel: Ich, Gina Wild
Autoren: Michaela Schaffrath
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1. Keiner will mich
    An meinem 27. Geburtstag hielt ich ein ganz besonderes Geschenk in der Hand: Meinen ersten Pornoschwanz. Es war der Schwanz von Rocco Siffredi, dem größten männlichen Star der internationalen Pornoszene. Das war am 6. Dezember 1997. Nikolaustag.
    Rocco Siffredi ist ein Bild von einem Mann. Der bestaussehende Pornodarsteller, den es gibt. Hochgewachsen, sehr muskulös, aber nicht aufgepumpt, mit halbblonden, halblangen Haaren und einem tollen, sehr männlichen Gesicht. Und er hat einen wunderschönen Schwanz. Groß und mächtig, nicht schief, sondern wohlgeformt. Er ist ein Traumtyp mit dem jede Darstellerin aus der Szene gerne dreht. Rocco hat den Ruf der beste von allen zu sein. Ich wünsche mir oft, dass es mehr solcher Männer in der Hardcorebranche gibt.
    Ein Traum war für mich greifbar geworden. Ich war ganz nah dran. Fast mittendrin, wohin es mich schon lange gezogen hatte. Ich hielt diesen berühmten Schwanz in meiner Hand, und er wurde immer größer. Superstar Rocco lachte mich an. Die Menge ringsum war begeistert.
    Das passierte auf der Venus 1997, der größten deutschen Pornomesse. Es war kalt, wir waren in Berlin, und der Vorhang in eine Welt voller Verlockung war offen. Das junge Mädchen, das einst keiner haben wollte, war im Pornoland angekommen. Ich fühlte mich begehrt.
    Endlich, endlich begehrt. Tausendmal war ich das Leben verfluchend auf meinem verheulten Kissen eingeschlafen. Ich, Michaela Schaffrath, das Pummelchen mit den dicken Brillengläsern, das in der Schuldisko keiner abknutschen wollte, war damals ohne Hoffnung, jemals das Geschenk körperlicher Liebe kennen zu lernen.
    Nein, ich war kein hübscher Teenie, und das wusste ich genau. Abends träumte ich davon, schön zu sein wie Maggie aus »Dornenvögel«. Ich habe in meinem Bett unterm Dach unseres kleinen Hauses in der Waldsiedlung von Eschweiler gelegen, draußen rauschten die Bäume, und ich stellte mir vor, ich läge in den Armen von Pater Ralph de Bricasar. Ich konnte minutenlange Dialoge herunterleiern, kannte fast jedes Detail der Serie. Die junge anmutige Maggie war in diesen einsamen Stunden mein zweites Ich.
    Warum konnte ich nicht sein wie diese Maggie, fragte ich mich beim Einschlafen. Und am nächsten Morgen vorm Spiegel wusste ich warum. Das war deprimierend. Das Gefühl hässlich zu sein, ist auf meiner Seele eingebrannt wie eine Narbe. Heute noch überkommt mich manchmal ein kalter Schauer, wenn ich zurückdenke an diese Zeit, als mich niemand aus der Verzweiflung befreien konnte, mich wie eine Ausgestoßene zu fühlen.
    Meine früheste Erinnerung ist, im Gitterbett eines Krankenhauses eingesperrt zu sein.
    Ich habe von Geburt an einen starken Sehfehler. Eine Hornhautverkrümmung am linken Auge. Die musste behandelt werden, als ich drei Jahre alt war.
    Das Bild dieses schrecklichen Gitterbetts ist noch ganz deutlich. Damals wusste ich natürlich noch nicht, was ein Gefängnis ist, doch es war ein entsetzliches Gefühl, weggesperrt zu sein. Morgens wurde ich von einer teilnahmslosen Krankenschwester gewaschen und gefüttert. Vielleicht bin ich ungerecht, aber so kam sie mir vor. Auch diese Schwester habe ich noch ganz deutlich in meiner Erinnerung behalten.
    Manchmal denke ich darüber nach, ob diese Frau der Grund ist, weshalb ich später zehn Jahre lang selbst Kinderkrankenschwester war. Und ich war es gern. Es ist einer der schönsten Berufe, die ich mir vorstellen kann. Vielleicht wollte ich diesen Job einfach nur besser machen als sie.
    Nach dem Waschen geschah stundenlang nichts. Ich wollte aber raus zum Spielen. Aber die Gitterstäbe trennten mich von den anderen Kindern. Später kam das Mittagessen. Es gab Kartoffelpüree. Jeden Tag Kartoffelpüree. Er hing mir zum Hals raus. Eines Tages habe ich mein Bett damit vollgekotzt.
    Meine Eltern kamen, wann immer sie konnten. Doch damals gab es noch feste Besuchszeiten. Nur zwei bis drei Stunden täglich, danach war ich wieder allein. Ich stand dann am Gitter und schrie mein Elend aus mir heraus, aber keiner hörte zu.
    Es gibt sicherlich einen Grund, warum diese Zeit im Krankenhaus immer noch so deutlich wie ein Film vor meinen Augen abläuft. Das war ein ganz tiefes Gefühl der Einsamkeit. Alle meine bösen Kindheitserinnerungen drehen sich um dieses Gefühl der Einsamkeit und meine große Angst davor.
    Seitdem ich denken kann, sehne ich mich nach Zuneigung und Gesellschaft. Ich will immer mit allen Leuten gut befreundet sein und niemanden
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