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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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Hexachlorophen zurückgeführtwurden. Mehr als zwanzig Kleinkinder sind bisher nachweislich an der Wirkung des Puders gestorben. Als der Vater das hört, so stelle ich mir das vor, wird ihm schlecht. Er denkt an seine Kinder. An die Mutter. Zum ersten Mal seit drei Tagen. Deine Mutter denkt wahrscheinlich an Dich. Und sagt: Gut, dass wir nicht in Frankreich sind. Bébé, wie sich das schon anhört, sagt sie. Der Vater springt auf, knüllt die Zeitung zusammen und zieht Deine Mutter von der Bank. Vielleicht sagt er etwas, um sie zu beruhigen: Du hast ja keine Kinder.
    Ich frage mich, ob er überlegt hat, wie es weitergehen soll mit den beiden. Ob er sich ein gemeinsames Leben mit Deiner Mutter ausgemalt hat? Hat er sie gefragt, ob sie ihn heiraten würde, wenn er sich von seiner Frau trennen würde? Was hätte sie dann wohl geantwortet? Warum hat Deine Mutter nicht reinen Tisch gemacht und alles erzählt? Hatte sie Angst? Es war doch längst klar, dass der Vater auf Dauer nicht taugen würde als Quelle für den Geheimdienst. Seine Trinkerei war nicht mehr zu verleugnen. Ein, zwei Beförderungen noch, dann wäre es aus gewesen. Er hätte es nie ganz nach oben geschafft. Warum hat Deine Mutter nicht auf ein gemeinsames Leben bestanden? Hat sie gespürt, dass die Gefühle für den Vater aus einer ganz anderen Zeit stammten? Dass man Liebe nicht konservieren kann? War das ein böses Erwachen für sie? Hat sie eingesehen, dass er ein Trinker geworden war, ein hoffnungsloser Fall, mit dem man seine Zukunft besser nicht plante? Und der Vater?
    Komm, sagt er, wir gehen zum Schwimmen. Deine Mutter jubelt. Vorher machen sie an einem Kiosk halt. Der Vater trinkt ein Bier. Deine Mutter kauft ein Eis. Der Vater schaut Deine Mutter an und die Umgebung verschwimmt. Er fühlt sich wie damals in N., als er noch nicht wusste, wie es ist, alleine zu sein. Ganz alleine. Ohne Eltern. Ohne Geschwister. Wie es ist, auf einer Steinplatte zu leben, einer harten, kalten Steinplatte, in die keine Wurzeln hineinwachsen können. Und jederzeit spürt er die Kälte des Steins, wie sie durch die Fußsohlen in seinen Körper strömt und die Muskeln hart macht. Auf dieser Steinplatte findet er keinen richtigen Schlaf. Auf dieser Steinplatte bleibt er immer wach. Jetzt nimmt er Deine Mutter an den Händen und schaut ihr in die Augen, sie weicht seinem Blick aus. Er dreht sich mit Deiner Mutter an den Händen, so lange, bis der Olympiapark um sie herum vollends verschwommen ist. Er schließt die Augen und die Steinplatte unter seinen Füßen löst sich auf, wird ganz weich und elastisch. Die Wärme Deiner Mutter strömt durch seine Hände. Er sieht den Friedhof hinter dem Haus, den Dom, die Straße vor der Schule, er riecht den Chemikaliendampf, der in jeder Ritze der Fabrik sitzt, er sieht Ursula und seinen Vater, die Geschwister, die Kirche, den Pfarrer, das Gefängnis, die Gesichter der Vernehmer, die Tante, die Steinplatte weicht weiter auf, wird heiß, flüssige Lava, er versinkt in seiner Erinnerung, bis zu den Knien, er stoppt abrupt ab und fällt auf das Pflaster zwischen Stadion und Schwimmhalle. Deine Mutter lässtsich neben ihn fallen. So liegen sie da, völlig außer Atem und blicken in den blauen Himmel. Da, sagt der Vater, da zieht eine Wolke. Die Leute um sie herum schauen verwundert zu ihnen herunter, zwei Erwachsene auf dem Boden, wie die Kinder, aber weil Olympia ist und man nicht so genau weiß, was dieser Tanz zu bedeuten hat, weil man auf Freude und Ausgelassenheit eingestellt ist, spätestens seit dieser bunten Eröffnungsfeier drei Tage zuvor, weil man sich verordnet hat, die Jugend der Welt in Frieden und Freiheit zu beheimaten, reißt man sich zusammen und lächelt gnädig über das, was aussieht wie Lebenslust. Deine Mutter sieht die Narbe auf dem Kopf des Vaters und denkt an N. und dann an den Kontaktmann und an Amerika. Und daran, dass sie sich am nächsten Tag mit ihrem Offizier treffen wird, um die Einzelheiten ihrer weiteren Zusammenarbeit zu besprechen, um ihn in Sicherheit zu wiegen, um dann abzutauchen in den Menschenmengen, in den Feierlichkeiten. Nicht ahnend, dass das Attentat ihr genau den Windschatten bieten wird, den sie für das Gelingen ihrer Flucht brauchen wird. Und dann stehen sie wieder auf, der Vater zückt seinen Kamm und striegelt die Haare, die seine Glatze bedecken sollen, er steckt sein Hemd wieder tief in die Anzughose, Deine Mutter schlägt den Staub von ihrem kurzen Sommerkleid und nimmt Kurs auf
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