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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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Wie Du sprichst. Wie Deine Hände aussehen. Ich vergleiche Dich. Mit mir. Mit ihm. Die Stimme, die Haare, aber ich kann nichts erkennen. Dein Hals ist kurz. Seiner war lang. Mein Hals.
    Und dann sage ich: Wenn ich Dich einfach so getroffen hätte, auf einer Party oder im Theater, dann wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, dass Du mit mir verwandt sein könntest. Du lächelst verlegen. Du versuchst, Deine Hände vor mir zu verbergen. Ich höre meine Stimme: Eine Affäre. Weiter nichts. Das sieht ihm ähnlich. Deine Augen werden feucht.
    Ehrlich gesagt, das Foto spricht eine andere Sprache. Das sieht nach Doppelleben aus, nach Liebe, nach großem Kino. Du bist einen Monat jünger als ich, das heißt, vier Wochen nach meiner Zeugung hat mein Vater mit Deiner Mutter Sex gehabt. Mit dieser forschen, gut aussehenden Frau auf dem Foto. Ihre Beine sind nach außen gespannt,leichtes O, aber die Füße sind abgeschnitten, wie beim Vater, man sieht die Schuhe nicht, der Rock ist kurz, die Beine sind stramm, ihre Oberarme kräftig, gebräunt. Eine Haarlocke fällt ihr ins Gesicht, ihr Mund ist links etwas nach oben verzogen, wahrscheinlich, weil sie die Locke aus dem Auge blasen will. Das sieht frech aus, selbstbewusst, überhaupt kommt mir diese Frau auf dem Foto so vor, als wüsste sie ziemlich genau, was sie will. Aber was sagt schon ein Foto.
    Du streichst Dir die Tränen mit den Fingern von der Wange. Du schaust mich lächelnd an. Entschuldigst Dich für die Tränen. Meine kehlige Stimme: Warum hast Du nie richtig nachgefragt? Hast Du nie den Drang verspürt, nach ihm zu suchen? Nein, sagst Du. Ich war ja glücklich. Und wo hat sie all die Jahre dieses Foto versteckt? Musste sie nicht Angst haben, dass Du das Bild entdeckst? Was wäre eigentlich, wenn Deine Mutter ihre Wahrheit mit ins Grab genommen hätte? Wenn das Foto nie aufgetaucht wäre? Wenn Deine Mutter das Stückchen Papier in den Müll geworfen hätte? Das Bild wäre wahrscheinlich im Verbrennungsofen irgendeiner amerikanischen Halde gelandet, es wäre als kleiner Teil einer giftigen Wolke in den Himmel gestiegen und die Wahrheit über den Vater und Deine Mutter wäre als saurer Regen auf die Erde getropft. Deine Mutter hätte ein paar Tränen verdrückt, und Dein Leben würde genauso weitergehen wie vorher.
    Es geht nicht nur um den Vater. Es geht auch um Deine Mutter.
    Erzählst du mir mehr von ihm, fragst Du mich, wir könnten skypen, mailen, alles Mögliche. Ich weiß nicht, sage ich. Lass mir Zeit. Ein paar Wochen vielleicht. Bei mir ist gerade viel los.
    Wir verabschieden uns, ohne uns anzufassen.
    Kein Händedruck, nichts.
    Als ich nach unserem Treffen wieder zu Hause war, wusste ich nichts mit mir anzufangen. Ich bin ziellos durch die Wohnung getigert, von Raum zu Raum und an keinem Punkt der Wohnung hat es mich länger als ein paar Sekunden gehalten. Der Fernseher hat sein farbiges Gift versprüht. Die Augen taten weh. Das Sofa hat gebrannt unter meinem Hintern. Der Küchenboden stand unter Strom. Ich habe mit den Fingern in den Haaren gedreht, bis sie sich angefühlt haben wie Stroh. Ich habe das Radio eingeschaltet, um es ein paar Takte später wieder auszuschalten. Ich habe den Hörer der Gegensprechanlage aus der Wandhalterung genommen, kurz dem Rauschen der Straße gelauscht, ein paar Schritte, ein Auto, vorbei laufende Partyleute, ich habe den Hörer wieder eingehängt.
    An Schlaf war nicht zu denken. Ich habe mich hin- und hergewälzt. Ab und zu bin ich weggedämmert. Am frühen Morgen, um kurz vor sieben, ist Holger nach Hause gekommen. Ich habe mich zu ihm in die Küche gesetzt. Wirhaben Kaffee getrunken. Stumm. Das machen wir jedes Mal, wenn er von seinem Nachtdienst in der Klinik nach Hause kommt. Eine viertel Stunde sitzen wir zusammen. Der Kühlschrank brummt. Der Kaffee duftet. Und dann steht er auf, gibt mir einen Kuss, geht ins Bad, putzt sich die Zähne und legt sich hin. Ich hole dann die Zeitung von draußen. Neues vom Tag.
    Ich habe unser Treffen nicht erwähnt.
    Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar verstaut seine Kinder im Auto. Gegenüber hängt eine alte Frau ihr Bettzeug zum Lüften über die Fensterbank. Ab und zu fährt ein Wagen los. Aus der Ferne die Feuerwehr. Die Sirene verschwindet wieder. Der Unfall, der den anderen passiert. Holger schläft.
    Gleich muss ich zur Probe. Letzte Woche ist es wieder losgegangen. Ich habe zwei Monate nach meiner letzten Premiere frei gehabt. Das heißt:
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