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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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Auf dem Foto sieht man den Vater als sechsunddreißigjährigen Mann an der Seite einer blonden Frau, die ein buntes, eng geschnittenes Sommerkleid trägt. Sie legt ihren Arm um seine Hüfte, er schaut seitlich zu Boden. Sie posiert. Hinter der Scheibe ein paar kostümierte Hostessen. Das Gesicht des Vaters im Profil, ein dunkler Schatten schneidet den Kopf in zwei Hälften. Der Körperhaltung nach passt ihm die Situation nicht, aber das kann täuschen. Er trägt eine braune Anzughose mit Schlag und eines von seinen weißen, kurzärmeligen Sommerhemden. Dazu einen braunen Kunstledergürtel. Die Füße sind abgeschnitten. Wahrscheinlich hat er Sandalen und Socken an. Die beiden stehen neben dem Eingang der Olympiaschwimmhalle. Rechts das himmelblaue Piktogramm mit den zwei weißen Figuren beim Startsprung. Wenn man die Geschichte kennt, erahnt man bei Deiner Mutter einen kleinen Bauch unter dem knalligen Paisley. Auf der Rückseite der Originalfotografie hat Deine Mutter Ort, Datum und Anlass vermerkt. Du hast ihre Notizen kopiert. Fein säuberlich hast Du mit Kugelschreiber hinten auf dieses dünne Blatt Papier geschrieben:
München, 29. August 1972. Entscheidung 200 M K.
    Ich bin im selben Jahr am 28. Dezember auf die Welt gekommen.
    Vier Monate vor meiner Geburt stand der Vater auf dem Gelände der Olympischen Sommerspiele 1972 und hat sich mit Deiner Mutter fotografieren lassen.
    Als diese Aufnahme gemacht wurde, war meine Mutter im fünften Monat schwanger. Mit mir.
    Er hat es gehasst, fotografiert zu werden.
    Der Alphaville-
Forever-Young
-Klingelton, den Holger ein paar Tage vorher auf unserem neuen Telefon programmiert hatte, hat Dich angekündigt, mittags, an einem ganz normalen Dienstag, und ich habe gedacht: Bestimmt wieder so eine Umfrage für irgendeinen Marktforschungsscheiß. Ich habe den Hörer abgenommen, obwohl ich wusste, keiner von meinen Leuten ruft mich um diese Uhrzeit an. Deine ruhige Stimme, der amerikanische Akzent. Legen Sie bitte nicht auf, hast Du gesagt. Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Und ich habe gedacht, klar, Lotterie, Umfrage, was weiß ich, und ich habe Luft geholt und in meinen tiefen Atmer hinein hast Du gesagt: Ich glaube, ich bin Ihr Bruder. Wie bitte? Mein Bruder? Und dann hast Du es mir ganz langsam erklärt. Dass Deine Mutter gestorben sei. Dass sie Dir in einem Brief offenbart habe, wer Dein leiblicher Vater war. Dass Du erst nichts davon wissen wolltest, dass Du dann aber doch Nachforschungen angestellt hättest und dabei auf mich gestoßen seist. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet,dass sich Dein Anruf als besonders raffinierter Marketinggag entpuppen würde. Oder als Trickbetrug. Jetzt gleich, habe ich gehofft, wird er anfangen von Geldproblemen und Verwandtschaft und Notlage zu reden, und dann hole ich aus zum Gegenschlag. Aber ich habe mich getäuscht. Haarklein hast Du mir erklärt, wie Du bei Deiner Recherche vorgegangen bist. Dass Du erst zum Hörer gegriffen hast, als Du Dir ganz sicher warst.
Die
muss es sein. Ich bin schon in der Stadt, hast Du gesagt. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen.
    Du hast gesagt, dass Du wieder zurück musst. Nach Amerika. Weil Deine Familie auf Dich warte. Der Job. Als ich Dich gefragt habe, was Du beruflich machst, hast Du etwas verlegen gelacht. Uni, Werbung, habe ich angefangen zu raten, nein, nein, bist Du mir ins Wort gefallen, ich bin Lehrer. Biologie, Chemie. Eigentlich hättest Du Forscher werden wollen, Arzneimittel, irgend so was, aber dazu habe Dir die Ausdauer gefehlt. Und dann hast Du gelacht. Und es sah aus, als hätte der Vater gelacht.
    Ich habe Dir einen Abriss von seinem Leben gegeben. Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Einritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater. Aber nicht so tragisch, Zeit heilt Wunden,habe ich abgewiegelt. Ich habe so getan, als ob mich Deine Geschichte nicht sonderlich bewegen würde. Der Vater hatte andauernd irgendwelche Affären, habe ich gesagt. Es würde mich nicht wundern, wenn da draußen noch mehr von Deiner Sorte rumliefen. Ich hatte Mühe, meine Tränen zu unterdrücken.
    Ich habe Dich angelogen. Der Vater war kein Typ für Affären.
    Wir sitzen uns in diesem Café gegenüber. Ich beobachte Dich.
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