Was wir erben (German Edition)

Taschentuch durch die Luft.
    Ich habe den letzten Railjet nach München genommen, um 18:14 Uhr. Um halb elf werde ich am Hauptbahnhof ankommen. Holger hat gesagt, dass er mich dort abholt. In meinem Kopf lauter unbeholfene Sätze über mich selbst, ich fühle mich wie in einem Traum gefangen.Als hätte ich Fieber. Es ist schon September. Gerade habe ich gedacht, ich hätte im Vorbeifahren verfärbtes Laub gesehen. Das kann eigentlich nicht sein. Ich denke an Hofffmann, an seine Weisheiten, die Fotos, ich denke an Dich. An Valon. Es wird langsam dunkel draußen. Der Mond. Valons Mond. Dein Mond. Holgers Mond. Ich werde Holger alles erzählen. Alles. Ich will versuchen, ehrlich zu sein. Wir machen einen Test, wenn das Kind auf der Welt ist. Und das Leben wird weitergehen. Ich werde morgen bei der Probe erscheinen und die stumme Yvonne geben. Und dann werde ich mich irgendwann mit einem dicken Bauch vom Theater verabschieden. Wer auch immer der Vater ist, dieses Kind, soll die Wahrheit erfahren.
    Du hast mich vor den Ferien gefragt, wer Dein Vater war, was für ein Mensch er gewesen ist. Du hast das Foto auf den Tisch gelegt, dieses etwas verblasste Erbe Deiner Mutter, und ich habe Dir erklärt, dass ich Zeit bräuchte, um über Deine Bitte nachzudenken. Jetzt sitze ich hier in diesem Zug und halte die x-te Kopie des Bildes in der Hand. Ich überlege, ob ich Dir meinen langen Brief, die Geschichte dieses Sommers, zuschicken soll. Oder ob es besser ist, sich wieder zu treffen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das sage: Ich bin Dir dankbar für Dein Auftauchen. Die elektronische Stimme des Railjets hat eben die bevorstehende Ankunft in München durchgesagt. Gleich werde ich den Zug verlassen. Ich schalte den Computer aus. Jetzt.

 
     
     
     
     
    © Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2013
    Umschlaggestaltung: Lowlypaper, Marion Blomeyer
eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH
ISBN 978-3-88897-839-5