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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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er denkt an seine Frau, dass sie zu dünn ist, zu viel raucht, er denkt an die neue Schwangerschaft seiner Frau, er zündet sich noch eine Zigarette an, er hat Angst, weil er nicht will, dass noch ein Kind kommt, aber das würde er niemals aussprechen, nicht er, der Vater der Familie, der Erzeuger, der an Weihnachten den Baum schmückt und im schwarzen Anzug mit silberner Krawatte die Weihnachtsgeschichte vorliest, auch wenn Ute schreit und krächzt, er lässt sich nicht beirren, dieses eine Mal im Jahr, es begab sich aber zu der Zeit, das muss sein, dieses Reenactment der einzigen positiven Erinnerung an den eigenen Vater. Woran ich denke: die Geborgenheit, die man in einer Stimme finden kann. Ich habe an seinen Lippen geklebt, ein Mal im Jahr. Die Stimme war warm. Freudig. Der Vater versank in der großen Bibel, die er mit den Händen vor sich hielt. Er sprach die Sätze, aber er war mit den Gedanken und den Gefühlen woanders. In einer besseren Welt. Das habe ich gespürt als Kind. Wieder diese Krawatte, sagte die Mutter, wenn der Vater am Abend erschien. Und ich hasste sie für diese Worte, weil ich die Krawatte liebte. Sie leuchtete, wenn der Vater vor dem Baum stand mit den Kerzen, die riss ein Loch in den Oberkörper des Vaters, ein Loch aus Licht. Ich konnte in den Vater hineinschauen, und was ich sah, war hell, entflammt, weit, grenzenlos. Licht.Als der Vater beim Bestatter im Sarg lag, fehlte die Krawatte. Hat die Mutter sie entsorgt?
    Er will das neue Kind nicht. Der Gedanke verschwindet sofort wieder aus seinem Bewusstsein, bleibt aber in ihm drin und meldet sich von Zeit zu Zeit. Immer dann, wenn er ihn nicht gebrauchen kann. Er geht raus aus seinem Dienstzimmer. Ein paar Stockwerke tiefer ins Offizierskasino. Der Arbeitstag ist für heute beendet. Er bestellt etwas zu trinken. Ein junger Wehrpflichtiger bringt ihm eine Flasche Bier. Er trinkt den ersten Schluck. Und gleich den zweiten hinterher. Und nach dem dritten ist die Flasche schon leer. Der Alkohol schießt durch seine Adern, der Raum wird heller, er denkt an München, er stellt sich vor, was sie wohl anhaben wird, wenn sie sich treffen. Ihm wird ein zweites Bier gebracht. Er ist glücklich, weil sie sich wieder bei ihm gemeldet hat. Weil sie wegen ihm in den Westen gekommen ist. Er denkt jetzt nicht daran, ob ihre Liebe eine Chance hat. Er trinkt noch ein Bier. Er verlässt das Kasino. Auf dem Weg nach Hause geht er in eine Kneipe und stellt sich an den Tresen. Ein Bier noch, denkt er, dann sind die Kinder im Bett, wenn er nach Hause kommt. Drei Stunden später ist er in ein wütendes Gespräch verwickelt, über den Kommunismus und den Krieg und den Russen, und er verteidigt die Politik der Annäherung und ruft die Gleichheit des Menschen aus, in Ost wie West, und erntet bei den anderen Trinkern nichts als Kopfschütteln, obwohl er seine eigene Geschichte als Gewähr anführt für seine Glaubwürdigkeit.Seht her, mir haben sie Leid zugefügt, aber ich bin bereit, ihnen zu vergeben. In der Nacht zahlt er die Zeche und wankt nach Hause. Die Wohnung ist dunkel, alle schlafen. Er setzt sich in das kleine Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Testbild. Und ein lauter Piepston. Er schaltet den Ton ab. Er schläft auf dem Sofa ein. Am nächsten Morgen wird er von Utes Schreien geweckt. Er springt auf, rasiert sich im Bad, trinkt einen Kaffee, den die Mutter gemacht hat, und verlässt das Haus. Er hat kein Wort gesprochen. Er hat der Mutter nicht von der bevorstehenden Dienstreise erzählt. Am Abend, denkt er, am Abend werde er ihr Blumen mitbringen und dann würde er ihr von der Reise berichten. Aber auch daraus wird nichts, denn am Abend feiert ein Kamerad seine Beförderung und wieder wird es spät. Er schreibt der Mutter einen Zettel, in der Nacht, und legt ihn auf den Küchentisch, bevor er im Morgengrauen verschwindet. Es ist Freitag der 24. August.
Spontanes Manöver
, steht auf dem Zettel.
Rückkehr 30. August gegen Abend
.
Gruß Vater
.
P. S. Die Kinder haben einen besseren Vater verdient.
Mehr nicht.
    Wie sie das geschafft hat, will er wissen, jetzt zum Auftakt der Spiele ein Hotelzimmer in so zentraler Lage in München zu ergattern. Sie lacht und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. Sie nennt das vielleicht
ihr Geheimnis
. Er freut sich vermutlich, dass sie so fröhlich ist. Der Vater ist müde, aber er lässt sich nichts anmerken. Sie laufen durch die putzsaubere Stadt, überall Polizisten, gut gelaunteMenschen, sie besuchen die neue,
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