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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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sei man auf die Fantasie und die Erfindungsgabe des Betrachters angewiesen. Elisabeths Buch. War das die unbewusste Voraussage des Vaters, indem er mir diesen Namen gegeben hat, du, Tochter, wirst dieses rätselhafte Buch schreiben, das von mir, deinem Vater handeln wird? Und von Dir, dem halben Bruder, und von Deiner Mutter und davon, dass uns nichts bleibt, als alles neu zu erfinden, um uns einen Weg in die Zukunft zu bahnen? Der Mann fing an, über die neuen von Neo Rauch gestalteten Fenster zu sprechen. Die Kirchenfenster sind blutrot und zeigen drei Stationen in Elisabeths Leben. Wie sozialistische Historienmalerei sieht das aus. Drei Motive aus dem Leben der Heiligen habe der Leipziger Maler aufgegriffen und in seinem blutroten Triptychon vereinigt. Elisabeths Verabschiedung von ihrem Mann vor dem Aufbruch zum Kreuzzug.
    Eine Kleiderspende an Bedürftige. Die Pflege der Kranken. Alles hängt mit allem zusammen, habe ich gedacht. Und dann klingelte mein Handy. Mitten in eine kurze Stille, die der Führer gelassen hatte, nachdem er seinen Gangdurch Peter und Paul mit dem Angebot, noch Fragen stellen zu dürfen, beendet hatte. Ja, Peter und Paul. Alle starrten mich an. Ich zog das vibrierende Monster aus meiner Jackentasche. Seit Valons Verschwinden hatte ich das Handy immer an. Ich habe auf eine Nachricht gehofft. Die ganze Zeit. Eine lokale Nummer. Ich ging dran und erntete allseitiges Kopfschütteln. Es war Franz aus dem Tierheim. RICO habe sich als hungriges, alles verschlingendes Ungeheuer entpuppt, ich müsse unbedingt noch mehr Geld zu seiner Versorgung vorbeibringen, sonst könne ihrerseits nicht gewährleistet werden, dass der Hund adäquat versorgt würde. Außerdem habe der ehrenamtlich arbeitende Tierarzt dringend dazu geraten, RICO mit einer kostspieligen Vitaminkur zu behandeln. Das Beste sei, ich komme vorbei und mache mir selbst ein Bild. Die Adresse hätte ich ja, sie seien fast immer vor Ort, ein kurzer Anruf reiche aus. Ich kam gar nicht mehr dazu, zu antworten. Als ich das Telefon wieder in die Jacke gesteckt hatte, bemerkte ich, dass ich mittlerweile allein war in der Kapelle.
    Uta, Ute, Elisabeth, Petra, Paul. Seine gewollten und ungewollten Kinder. Nur der Bruder fehlt. Sven. Die Anordnung der Namen ergeben ein amputiertes Duplikat dieser Kirche. Wenn das mehr ist als meine Fantasie, mehr als ein Zufall, mehr als eine Spekulation, dann ist es ein lächerlicher Plan. Wahrscheinlich ist es wie mit einer guten Verschwörungstheorie. Irgendwie geht das schon auf und es gibt immer noch eine ungelöste Frage, deren Beantwortungdes Rätsels Lösung, die Enthüllung der Wahrheit sein könnte.
    Als ich der Wirtin nach dem Kino von meiner Entdeckung erzählt habe, hat sie gelacht. Ihr Deutschen hat sie gesagt, habt keine anderen Sorgen, als ständig überall irgendeine Heimat zu errichten. Sogar die Kinder, die ihr zeugt, dienen nur dazu, das nachzubilden, was ihr für eure Heimat haltet. Kind, hat sie gesagt, vergiss das, sonst drehst du irgendwann durch. Der Heimatlosigkeit gelte die Zukunft. Ich dachte an Valon und das, was er mir erzählt hat über die Roma. Dass es keine Ruhe gebe für ihn und sein Volk. Dass er überall zu Hause sei. Dass ihn das Schicksal stark mache, auch wenn es so viele seiner Vorfahren das Leben gekostet habe. Dass er sich fühle wie ein Lichtstrahl, der überall auftauchen könne und jederzeit bereit sei, zu verschwinden, um sich woanders wieder neu zu verteilen. Und ich habe an Holger gedacht. Dass er auf mich wartet. Dass er verstehen würde, wenn ich ihm sagen würde, dass ich eine Heimat brauche. Jeder Mensch braucht eine Heimat, würde er dann sagen. Und ich würde mich wohl fühlen.
    Als ich aus dem Dom kam, schien die Sonne. Ich beschloss, gleich zu Hofffmann in die Klinik zu gehen. Auf dem Weg dorthin kam mir die Stadt merkwürdig klar vor. Die Sonne warf an diesem Mittag ein erbarmungsloses Licht auf diese Welt. Die Einheimischen sahen müde und krank aus. Die Autos waren laut. Es war, als hätte ich bisdahin alles durch einen Schleier betrachtet. Alles war mir so geheimnisvoll und voller Bedeutung vorgekommen. Überall spukte die Vergangenheit, ich hatte den Vater als Jungen durch die Gassen laufen sehen, ich hatte die Ausdünstungen der Arzneimittelfabrik gerochen, sogar die rothaarige Ursula stand beim Bäcker in der Schlange und kaufte Brötchen für die Kinder. Ich erinnerte mich an Hofffmanns Schwarz-Weiß-Film, an das Land, das er abfotografiert hatte.
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