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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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riesige Einkaufspassage am Stachus.
    Dort waren wir auch, als ich Dir die S-Bahn-Station zum Flughafen gezeigt habe. Die Passage wird gerade renoviert. Die Zukunft von damals hat aufgehört. 72 ist vorbei.
    Sie sitzen in einem Eiscafé. Sie reden wieder über die Flucht. Wie bei ihrem letzten Treffen. Und dem Treffen davor. Immer wieder: die Flucht. Sie zückt zwei Eintrittskarten für Dienstag, den 29. August. Olympiaschwimmhalle. Davon habe ich geträumt, sagt sie. Ich nicht, denkt er und erzählt von einer in Aussicht stehenden Beförderung, der geplanten Versetzung ins Ministerium. Sie ist froh, dass sie das Gespräch nicht selbst auf dieses Thema lenken muss. So geht das schon seit über einem Jahr. Sie treffen sich für ein paar Tage. Sie reden. Deine Mutter versucht, an Informationen zu kommen, die sie ihren Führungsoffizieren übermitteln kann. Sie muss sie beruhigen. Sie erzählt dem Vater nichts von ihrem Doppelleben. Sie nimmt seine Hand und legt sie auf ihren Bauch. Am Abend essen sie bayerisch, der Vater trinkt ein paar Bier, Deine Mutter verzichtet seit dem letzten Treffen auf Alkohol, dann gehen sie ins Hotel. Die Olympischen Spiele sind eröffnet. Die Welt jubelt. Friedliches Deutschland, hellblaues Deutschland. Heitere Spiele. Zum ersten Mal gibt es ein Logo für so eine Veranstaltung: Dackel Waldi.
    Am nächsten Tag schlafen sie lange. Der Vater raucht nach dem Aufwachen. Deine Mutter verschwindet im Bad. Vielleicht ist ihr schlecht und sie muss sich übergeben.Es ist Sonntag. Sie gehen in den Englischen Garten und legen sich dort auf eine Wiese. Der Vater amüsiert sich über die Hippies, die überall rumlungern. Lange Haare, kurzer Verstand, sagt er und Deine Mutter lacht.
    Ich stelle mir vor, dass die letzten Tage eine Tortur für sie waren.
    Sie weiß schon, dass sie ihn verlassen wird. Sie vermeidet jedes Gespräch über die Zukunft. Das ist dem Vater recht. Sie hat den Leuten vom Geheimdienst gesagt, dass sie nicht aussteigen will, aber sie weiß auch, dass sie das Kind auf jeden Fall austragen wird, komme, was wolle. Sie weiß, was sie tun wird. Sie denkt an das Visum. Sie schaut den Vater an und versucht, sich sein Gesicht, so gut es geht, einzuprägen. Keine Fotos aus dem alten Leben. So viel hat sie verstanden. Sie hat sich vor ihrem Treffen mit dem Vater trotzdem eine neue, ganz kleine Kamera gekauft. Sie will wenigstens ein einziges Foto haben. Für Dich. Das schwört sie sich. Ein Foto für das gemeinsame Kind. Sie weiß noch nicht, ob Du ein Junge wirst oder ein Mädchen.
    Dienstag, 29. August. Sie spazieren Hand in Hand durch den Olympiapark. Am See entlang. Die Alm hinauf und wieder runter. Aus dem Stadion hören sie den Ansager, der die Leichtathletikwettkämpfe moderiert. Raunen. Beifall. Stille vor dem Startschuss. Sie setzen sich auf eine Bank. Jetzt sind sie schon seit mehr als drei Tagen zusammen in München. Der Vater hat eine Zeitung gekauft.
    Der Vater hat Zeitungen geliebt. Tageszeitungen. Wochenzeitungen.Magazine. Der Vater hat sein Wissen aus diesen Blättern gesogen, damit er Gesprächsstoff hatte. Im Kasino. In der Kneipe. Die Mutter hat abgewunken, wenn er mit ihr über Politik reden wollte. Also redeten sie gar nicht.
    Zum ersten Mal seit drei Tagen hat der Vater nicht das Bedürfnis, Deine Mutter anzuschauen. Er schlägt die Zeitung auf. Vielleicht ärgert sich Deine Mutter, dass er hinter dem Papier verschwindet. Sie streckt ihre Beine in die Luft. Sie schaut auf die Uhr. Bald müssen wir in die Schwimmhalle, sagt sie. Dann gehen die Endläufe los. Der Vater reagiert nicht. Deine Mutter ist nervös. Sie weiß, dass den beiden die Zeit davonläuft. Sie schlägt mit dem Handrücken gegen die Zeitung. Der Vater lässt die Zeitung sinken. Er bittet um fünf Minuten. Er muss sich für eine kurze Weile verstecken. Er hat Angst. Er will noch was trinken, bevor sie in die Schwimmhalle gehen. Dann gib mir auch was von deiner Zeitung, sagt Deine Mutter. Der Vater gibt ihr den Teil, der ihn nicht interessiert: Vermischtes. Sie lässt sich zurückfallen und hält die Zeitung mit ausgestreckten Armen vor ihr Gesicht. Und dann liest sie vermutlich eine Meldung und ruft extra laut: Oh Gott, wie schrecklich. Hör dir das an. Das Bundesgesundheitsministerium in Bonn warnt deutsche Frankreich-Urlauber vor dem französischen Kinderpuder der Marke Bébé. In Frankreich wurde das Puder eingezogen, nachdem mehrere Todesfälle von Kindern auf die in dem Puder vorhandene Phenol-Verbindung
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