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Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)

Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
Autoren: Susan Elizabeth Phillips
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1
    Dem alten Straßenverkäufer fiel der Junge spontan auf, denn er passte so gar nicht in Manhattans elegantes Bankenviertel. Kurz geschnittenes, leicht gewelltes schwarzes Haar stach schmutzstarrend unter dem verbeulten Hutrand hervor. Schmale Schultern steckten in einem flickenübersäten Hemd mit – vermutlich wegen der heißen Julitemperaturen  – aufgeknöpftem Kragen. Ein Lederriemen hielt speckige, schlotternde Reithosen in der Taille zusammen. Der Junge trug schwarze Stiefel, die viel zu lang schienen für den schmächtigen Kerl, und unter dem Arm ein sperriges Bündel.
    Der Straßenhändler lehnte sich über den mit Leckereien gefüllten Karren und beobachtete die zerlumpte Gestalt, die sich wild entschlossen durch die gut gekleideten Börsenmakler und Bankangestellten schob. Der alte Mann war ein aufmerksamer Zeitgenosse, und der Junge interessierte ihn.
    »He, du da, ragazzo . Komm, ich hab ein Pastetchen für dich. Zart wie der Kuss eines Engels. Na, komm schon.«
    Der Bursche riss den Kopf hoch und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tabletts mit den frisch gebackenen Köstlichkeiten. Der Händler konnte sich lebhaft vorstellen, dass er im Geiste durchrechnete, ob er sich dergleichen leisten könnte. »Komm, ragazzo . Ich geb dir eins aus.« Er hielt ihm ein großes Apfeltörtchen hin. »Betrachte es als Geschenk eines alten Mannes an einen Neuankömmling in dieser Weltmetropole.«
    Herausfordernd die Daumen in den Hosenbund gesteckt, schlenderte der Junge zu dem Karren. »Wie kommen Sie darauf, dass ich neu hier bin?«
    Sein Akzent war so weich wie der Duft des Jasmins, der auf den Baumwollfeldern in Carolina blühte. Der Alte verkniff sich ein Grinsen. »Na ja, war nur so ’ne blöde Idee von mir.«
    Schulterzuckend trat der Junge irgendwelchen Unrat in die Straßenrinne. »Ich hab’s weder abgestritten noch zugegeben.« Er deutete mit einem schmutzigen Finger auf den Kuchen. »Was soll’s denn kosten?«
    »Hab ich nicht eben gesagt, dass es ein Geschenk von mir ist?«
    Nach kurzem Überlegen nickte der Junge und streckte die Hand aus. »Na, dann vielen Dank.«
    Als er das Törtchen nahm, traten zwei Geschäftsleute in Gehröcken und Zylindern an den Karren. Der Blick des Jungen glitt verächtlich über die teuren goldenen Taschenuhren, zusammengerollten Schirme und auf Hochglanz polierten Schuhe. »Verdammte Yankees«, murrte er.
    Die Männer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie es nicht mitbekamen, doch der Alte runzelte die Stirn. »Wie es scheint, gefällt dir meine Stadt nicht besonders, hm? Bis vor drei Monaten hatten wir Krieg. Unser Präsident ist tot. Die Menschen sind immer noch tief betroffen.«
    Der Junge hockte sich auf den Karrengriff, um den Kuchen zu verspeisen. »Hab nie viel von diesem Mr. Lincoln gehalten. Er war mir zu infantil.«
    »Infantil? Madre di Dio! Was bedeutet denn das?«
    »Kindisch.«
    »Und woher kennt ein Junge wie du solche Begriffe?«
    Der Junge legte zum Schutz vor der Nachmittagssonne eine Hand über die Augen und blinzelte den Alten an:
»Ich lese viel. Und diesen speziellen Begriff hab ich von Mr. Ralph Waldo Emerson, den ich sehr bewundere.« Genüsslich knabberte er den Rand des Törtchens ab. »Als ich anfing, seine Essays zu lesen, wusste ich freilich nicht, dass er ein Yankee ist. War mordswütend, als ich es herausfand. Aber was soll’s. Da war ich bereits ein glühender Anhänger von ihm.«
    »Dieser Mr. Emerson. Was meint er denn so?«
    Der Junge schleckte mit seiner rosafarbenen Zunge ein Stück Apfel von dem schmutzstarrenden Zeigefinger. »Er redet von Charakter und Selbstvertrauen. Ich denke, Selbstvertrauen ist das Wichtigste für einen Menschen, was meinen Sie?«
    »Ich für meinen Teil finde Gottvertrauen am allerwichtigsten.«
    »Ich halt nicht mehr viel von Gott oder von Jesus. Früher mal ja, aber ich denke, ich hab in diesen letzten Jahren zu viel Schreckliches miterlebt. Musste tatenlos zuschauen, wie die Yankees unser Vieh abschlachteten und unsere Scheunen abfackelten. Und wie sie meinen Hund Fergis erschossen. Sah, wie Mrs. Lewis Godfrey Forsythe an einem Tag ihren Mann und ihren Sohn Henry verlor. Manchmal komme ich mir steinalt vor.«
    Der Straßenhändler sah sich den Jungen genauer an. Das kleine, herzförmige Gesicht. Mit der vorwitzigen Stupsnase. Ein Jammer, dass das Leben diese hübschen, unschuldigen Züge alsbald verhärten würde. »Und wie alt bist du, ragazzo ? Elf? Zwölf?«
    Unvermittelt spiegelte sich
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