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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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Schluss, voller Pathos, mit Wucht sollte das sein, das war die Aufgabe im ersten Jahr, die große Form, ich sollte mich trauen, die sterbende Johanna, am Ende ihrer Kräfte, ein letztes, bebendes Aufbäumen. Thomas schrie unentwegt bei den Proben. Ja, schrie er, jaaaa, lauter, los, du willst nicht sterben, du sollst nicht umsonst gekämpft haben. Schrei es heraus. Und ich hatte bis dahin alles gegeben bei den Proben, aber als ich da krank in meinem WG-Zimmer kauerte, da war mir nicht nach Schreien zumute, nach großer Form, da war mir nach Flucht, nach leisen Tönen, nach Rückzug, nach Kapitulation, aber Thomas ließ nicht locker. Ich habe ihm nichts von der Mutter erzählt, auch nicht vom alkoholkranken Vater, nichts, er wusste gar nichts und er setzte sich zu mir auf die Matratze und legte den Arm um meine Schultern, um mich, den HaufenElend, das verschüchterte Ding, die deutsche Leblosigkeit, und er sprach sehr verständnisvoll mit seinem etwas behäbigen, aber gut geölten österreichischen Akzent. Ich verstehe dich, du hast Schwierigkeiten, dich zu öffnen, das ging mir auch so am Anfang. Weißt du, deshalb haben sie dir diesen Monolog gegeben, gleich zu Beginn, damit du aus dir raus kannst, deine Mittel kennenlernen kannst, deine Stimme, deine Bewegungen, deinen wunderbaren Körper, damit du eine Erfahrung machst mit dir selbst, da musst du jetzt durch, es gibt nichts, was du dich nicht trauen solltest, nichts, das ist das Wahnsinnige an unserem Beruf, wir können alles machen, alles, aber nichts zählt, alles ist gespielt, das ist das Größte, sei frei, sei einfach frei. Wenn du die Lähmung überstanden hast, und du wirst diese Lähmung überstehen, er nahm meinen Kopf in seine Hände, so als wollte er mich küssen, er sah mich lange an mit seinen wässrigen, grünen Augen, sein Atem roch gut, nach frischer Minze, dann nahm er mich bei den Schultern, freundschaftlich, ernsthaft, er stand auf, öffnete das Fenster meines Zimmers und schaute hinaus zur Straße. Er stand da, stramm, mit leicht durchgedrücktem Rücken, sein T-Shirt hing luftig an ihm herab. Der ausrasierte Nacken. Er glaubte wirklich, mein Problem sei die gewöhnliche Hemmung einer neunzehnjährigen Schauspielschülerin, die Angst vor ihren eigenen Gefühlen hat, Angst vor irgendeinem imaginären Tier in ihr drin, das nicht freigelassen werden durfte. Davon sprach er jedenfalls. Von diesem Tier. Die Vorstellung, dass man diesesTier befreien müsse, erlösen, diese Vorstellung schien ihn anzuspornen, das machte ihm Mut. Damit lag er ganz auf der pädagogischen Linie der Schule. Vor allem, wenn es sich um junge Mädchen handelte. Ich ließ ihn in seinem Glauben und plötzlich gefiel mir der Gedanke, an meinem Coming-out zu arbeiten, mich zu entpuppen, mich als eine extrovertierte, die eigenen Grenzen verachtende Darstellerin zu erweisen. Damit würde ich alle überraschen, mich selbst allerdings am wenigsten. Das sollte eine leichte Übung sein. Ich konnte die Kontrolle über mein Leben, meine inneren Zustände zurückerobern. Ich konnte den diffusen Schmerz und die Schwere, die der Besuch der Mutter und ihre Nachrichten aus der Familienhölle hinterlassen hatten, einfach ersetzen, ich konnte so tun, als ob ich eine ganz normale, gut behütete junge Frau gewesen wäre, ich konnte meine Geschichte einfach abschütteln, indem ich tat, was Thomas sagte. Ich musste ihm einfach etwas vorspielen.
    Komm her, befahl er mir, ohne sich umzudrehen, stell dich hier neben mich. Was siehst du da draußen? Ich sehe ein Haus, sagte ich, ich sehe geschlossene Fenster, ich sehe die schmutzige Hauswand, ich sehe, dass die Straßenbeleuchtung gerade angesprungen ist, ich sehe den Asphalt, wenn ich nach unten schaue, ich sehe Autos, einen Hund, eine alte Frau, zwei Punks, die behäbig vorbeilaufen, auf dem Weg zum Schnorren vor der U-Bahn-Haltestelle, ich sehe eine kleine Baustelle am Ende der Straße, ich sehe die Trafik, ich sehe den Verkehr auf der Wienzeile.Und wenn ich nach oben schaue, dann kann ich den Himmel sehen, einen Kondensstreifen, die schwache Silhouette des Mondes, ein paar Wolken. Du siehst die Welt, rief Thomas. Zwar nur einen Ausschnitt, aber doch die Welt. Das Wort
Welt
klang bei ihm wie eine Mischung aus dem englischen
Word
und dem deutschen
Wild
: Wöhld, oder so ähnlich. Er steigerte sich noch. Und dieser Welt hast du etwas mitzuteilen, du, Johanna, Königin, Kämpferin, Hoffnung deiner Männer. Ich weiß noch genau, wie ich mir plötzlich
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