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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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konnte ich den Rückfall des Vaters und den Besuch der Mutter vergessen, ich war euphorisiert von meiner kleinen Neugeburt, aber dann, ganz langsam, sickerte dieses eigenartige Gefühl, ferngesteuert zu sein, unfrei, beschwert mit Zentnern von klumpiger, zotteliger Vergangenheit, wieder in mein Bewusstsein.
    War
ich
in Wien, weil der Vater die Mutter dorthin einladen wollte, es aber nie geschafft hat?
    Als ich das Foto gesehen habe, Deine Mutter mit dem Vater vor dem Olympiabad, da dachte ich, mich trifft der Schlag. Ich wusste nicht, dass der Vater jemals in München gewesen ist. Und dann auch noch vor dem Olympiabad. Holger und ich gehen regelmäßig dorthin. Vor ein paar Wochen das letzte Mal. Es war ein regnerischer Tag. Durch die Fenster sah man die künstlichen Hügel des Parks. Wenn du von dort oben hinunter auf die Schwimmhalle schaust, dann denkst du, die Halle fliegt. Die Dächer, das Stadion, alles aus Stahl und transparenter Plane, alles wirkt vorläufig, wie von Nomaden hingestellt. Das ist die neue Welt von gestern. Auf den Bildern von damals sieht man fröhliche Menschen in Trainingskleidung. Grün. Orange. Sommer. Sonne. Braune Haut. Fahnen, die aufgeregt im Wind flattern. Das Jahr unserer Geburt.
    Die Schwimmbadblase war angefüllt mit warmer, feuchter Luft und diesen tausendfach verhallten Geräuschen.Kindergeschrei. Körper, die auf Wasser klatschen. Ein paar Jungs hielten den Fünf-Meter-Turm besetzt. Leiter rauf, Leiter runter, einarmiges Hangeln am Geländer, in die Hüften gestemmte Fäuste, Hände, die selbstverliebt über straffe Bäuche streichen, unterhaltsames Gepose an der Absprungkante, lautes Gejaule nach jeder Arschbombe, die schrillen Pfiffe des Bademeisters, die wie Blitze die Halle zerteilten, um dann als Echo über dem schmatzenden Wasser zu zerstäuben. Leise Musik aus der Ferne. Dire Straits, immer wieder dieselbe Platte,
Brothers in Arms
: Hallenbadsound. Ein paar Meter vor uns hatte sich eine Aquagymnastiktrainerin mit ihrer mobilen Lautsprecherbox platziert. Im Wasser tummelte sich ein Grüppchen Senioren. Die Alten hielten bunte Schaumstoffwürste um ihre Bäuche. Die zufällige Formation fleckiger Körper sah für einen Moment aus wie ein zerknittertes Alex-Katz-Bild. Farbige Flächen, kühl und distanziert. Keine Moral, keine Wahrheit, nichts, nur die Oberfläche. There is no story, hat Alex Katz gesagt.
    Ich war mal mit Thomas in einer Katz-Ausstellung. Ein paar Jahre nach unserer Trennung. Ich war auf Gastspielreise in Hamburg und hatte am Nachmittag zwischen Probe und Vorstellung ein paar Stunden Zeit. Thomas war auch in der Stadt. Und dann haben wir uns verabredet. Thomas ist gelangweilt zwischen den Bildern rumgelaufen: Ist mir zu viel Comic, hat er gesagt. Nur weil er sich nichts vorstellen könne, jenseits seiner Einfühlerei alsSchauspieler, solle er nicht so dümmlich über Kunst sprechen. Das sei halt keine Psychologie oder sonst irgendetwas aus seiner bürgerlichen Kunstmottenkiste, das seien einfach Abbildungen und das sei genau das, was wir im Theater nie hinkriegen, weil wir uns immer nur mit unseren mittelmäßigen Gefühlswelten beschäftigen. Ich bin laut geworden. Die Leute haben sich nach uns umgedreht. Er hat mich fassungslos angestarrt und wusste überhaupt nicht, was ich von ihm wollte. Thomas hat die Ausstellung fluchtartig verlassen. Danach haben wir noch ein letztes Mal telefoniert. Ich habe mich für meinen Auftritt entschuldigt.
    Die Köpfe, die Hälse, die Schultern, die Brustkörbe der Alten schauten aus dem Wasser. Die Badekappen waren bunte Punkte. Wenn die Sonne durch die Wolken drang, leuchteten die Farben vor schwimmbadblauem Hintergrund. Das Licht schickte ab und zu von unten einen Reflex in die Gesichter. Holger lag auf der Liege neben mir und hatte ein amerikanisches Fachmagazin aufgeschlagen,
Plastic and Aesthetic Surgery
. Ich habe ihm mit meiner besten Gruselstimme ins Ohr geflüstert: Ich wette mit dir, wenn du an denen vorbeischwimmst, riecht alles nach Tod. Ich habe meine Schwimmbrille angezogen und bin zum Becken. Im Wasser bin ich wie eine Verrückte losgekrault, mit hektischem Beinschlag, dicht an den Alten vorbei. Beim Atmen habe ich gesehen, dass Holger mich beobachtet hat. Durch die beschlagene Schwimmbrille sahes aus, als würde er unentwegt den Kopf schütteln. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Nach ein paar Bahnen hatte ich mich beruhigt und meine Atmung wurde flacher. Ich glitt sanft durch das Wasser. Mit
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