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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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war mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrt. Eben waren wir noch Delinquenten, denen man allerhöchstens Arroganz und Verachtung entgegenbringen konnte, und plötzlich fühlten sich die beiden durch unsere Gegenwart geschmeichelt, es schien, als fühlten sie sich fast ein bisschen geehrt, mit wem sie es unerwarteterweise zu tun hatten. Die beiden wünschten uns noch einen schönen Abend und verschwanden wieder. Thomas war sichtlich stolz, dass seine Auskunft bei den beiden so einen Eindruck gemacht hatte. Er lachte. Siehst du, so funktioniert das bei uns. Ich lief in mein Zimmer, schloss das Fenster und sprang auf meine Matratze, ich hüpfte rauf und runter und fing wieder an mit meinem Text. Ich streckte meine Arme nach Thomas aus, er kam zu mir und sprang mit, bis wir beide hinfielen, auf die Federkernmatratze, und anfingen uns zu küssen, völlig außer Atem. Ein paar Minuten später lag ich nackt und röchelnd auf dem Rücken, zwischen mir und Thomas ein schmieriger Blutfleck. Das Bettlaken bedeckte die Matratze nur noch halb. Unter meinem Bein hatte sich eine Metallfeder durch den Stoff gedrückt. Ich drehte mich zu Thomas und flüsterte ihm ins Ohr: Jetzt brauche ich eine neue Matratze. Sie hat ein Loch. Thomas lachte. Noch stolzer als vorher. Er verrieb sich genüsslich den Schweißauf seiner rasierten Brust. Er schaute auf den Blutfleck zwischen uns. War das wirklich das erste Mal, fragte er mich. Das allererste Mal? Ich glaube, ich habe in diesem Moment nur an meine Matratze gedacht und daran, dass ich kein Geld hatte, mir eine neue zu kaufen. Ich habe ihm keine Antwort gegeben damals. Thomas warf sich auf mich. Ich habe meinen Kopf zur Seite gedreht. Neben der Matratze lagen seine Kleider, T-Shirt, Hose, Unterhose, Socken. Du musst dich nicht schämen, sagte er. Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! Das säuselte er mir triumphierend ins Ohr. Den letzten Satz aus meinem Jungfrau-Monolog. Ich versuchte, ihn von mir runterzuwerfen, dabei knallte ich mit meiner Stirn auf seine Nase, die sofort zu bluten anfing. Thomas sprang auf. Sein linker Fuß verfing sich in der herausgeplatzten Metallfeder, er stürzte nach vorne auf den Boden, sein Zeh blieb in dem Draht hängen, er schrie, laut, vor Schmerz, sein Fuß klemmte in der Feder, seine Nase blutetet immer stärker. Ein erbärmlicher Anblick war das. Wie ein Tier, das in die Falle gegangen war. In Sekundenschnelle hatte sich die Entjungferungsszene in eine scheinbare Gewaltorgie verwandelt. Ich musste lachen. Thomas wollte seinen Fuß aus der Falle bugsieren, der Zeh schwoll an, das Blut tropfte ihm aus der Nase auf die Brust. Ich blieb einfach zur Seite gedreht liegen und sah mir das Schauspiel an.
    Am nächsten Tag bin ich wieder in die Schule gegangen. Ich fühlte mich gesund. Ich spürte, wie die Mitschüler hinter meinem Rücken tuschelten. Die Lehrer warenerfreut, mich zu sehen, bis auf meinen Sprechlehrer. Er wisse nicht, wie ich das Versäumte nachholen könne. Ich glaube, Thomas hatte ihm von seiner Eroberung erzählt und der alte Sack war enttäuscht, dass er nicht der Erste gewesen war. Er war dafür bekannt, sich an seine Schülerinnen ranzumachen. Er profitierte von seinem, aus besseren Tagen herübergeretteten, Ruhm. Damals lud er seine Lieblingsstudentinnen regelmäßig zu sich nach Hause ein, gab ihnen Zusatzstunden und beeindruckte sie durch seine innere Ruhe und sein Verständnis für die Fragen der altersbedingten Sinnsuche. Eine waschechte Gratisinitiation, die die Schule ihren weiblichen Elevinnen da anbot. Seine Wohnung war der Hort des Tabus. Und natürlich des dazugehörigen Bruchs. Er wartete den richtigen Moment der Verunsicherung ab, meistens ein halbes Jahr nach Beginn der Ausbildung, dann schlug er zu. Bei mir hatte er den passenden Zeitpunkt sicher auch schon kommen sehen, aber Thomas war schneller. Und dreißig Jahre jünger. Thomas hatte nach unserer Rollenarbeit ein paar unansehnliche Probleme: seine Nase war mit Mull und Pflaster verklebt, der linke Fuß steckte in einer klobigen Schiene. Er hatte ein paar Vorstellungen am Burgtheater zu spielen, das Schminken vorher, nachdem die Nasenverhüllung jedes Mal aufs Neue entfernt worden war, musste die Hölle gewesen sein. Wir hatten uns auf die Version
Probenunfall
geeinigt, das rettete sein Ansehen und meine Reputation. Gleichzeitig nötigte die vermeintliche Intensität unserer Zusammenarbeit den Leuten aufder Schule eine ordentliche Portion Respekt ab. Eine Zeit lang
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