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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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widerwillig mit mir durch die Stadt geschlichen, ihr Gesicht hat seinen säuerlichen Ausdruck drei Tage lang nicht verändert. So, als geschehe ihr ein schmerzhaftes Unrecht. Irgendwann habe ich sie zur Rede gestellt. Da brach es aus ihr heraus, warum ich eigentlich in diese Stadt zum Studieren gegangen sei, ob ich ihr damit etwas beweisen wolle. Warum ich so tue, als ob ich die Erfinderin der großen weiten Welt sei. Sie würde mich gar nicht mehr wiedererkennen. Ich wusste keine Antwort. Später, am Abend, als wir zusammen in meinem kleinen Zimmer saßen, da habe ich ihr versucht zu erklären, dass es keinen speziellen Grund für mich gegeben habe, ausgerechnet in diese Stadt zu gehen. Wien sei schlicht die erste Schule gewesen,die mich angenommen habe, mehr nicht. Das glaube ich dir nicht, hat sie geantwortet. Und dann hat sie mir noch einmal die ganze Geschichte vom Vater erzählt. Wien war darin das Synonym für Enttäuschung und hohle Worte. Irgendwann bin ich eingeschlafen.
    Ich fahre heute nach Hause, hat sie gleich nach dem Aufwachen verkündet, obwohl sie eigentlich länger bleiben wollte. Wir lagen noch im Bett, ich auf meiner alten Federkernmatratze, die ich unter das undichte Fenster geschoben hatte, und sie auf dem Futon, das mir meine tschechische Mitbewohnerin Sarka für die Dauer des Besuchs überlassen hatte. Damit war der Boden des Zimmers bedeckt, nur ein kleiner Schreibtisch hatte noch Platz und eine alte, braune Schrankwand, die ich von meinem Vormieter übernommen hatte. Genauso wie die immergrüne Waldtapete um die weiß lackierte Tür herum. Ich habe nichts zu ihrer Entscheidung gesagt.
    Wir standen am Bahnsteig und warteten auf ihren Zug Richtung Salzburg, da fing sie an zu heulen. Ihr liefen die Tränen das Gesicht herunter. Nichts und niemand konnte ihr helfen. Er wird bald sterben, er macht es nicht mehr lange, schluchzte sie so laut, dass sich der halbe Bahnsteig nach uns umdrehte. Und dann offenbarte sie mir, dass sie, kurz bevor sie losgefahren sei nach Wien, einen Anruf bekommen habe aus der Klinik, der Vater sei gestürzt, nachts, vor dem Haus, man habe ihn im Krankenhaus behalten müssen. Der Arzt habe versucht, sie am Telefon zu beruhigen, der Beinbruch sei nicht das Problem, sie wisseja Bescheid, er werde jetzt entgiftet, aber danach, da müsse er halt wieder zu sich nach Hause und dann gehe alles wieder von vorne los, es sei denn, er entschließe sich, eine Therapie zu machen, stationär in einer Klinik. Aber auch das könne dauern, bis es einen geeigneten Platz gebe, außerdem müsse er das schon selbst wollen. Und. Und. Und. Ich kann nicht mehr, rief die Mutter. Warum rufen die mich an? Warum lassen die mich nicht in Ruhe? Willst du deshalb zurück, weil du es nicht aushältst, ihn sich selbst zu überlassen, habe ich sie gefragt, und ich weiß noch, wie stolz ich war auf meine kühle, beherrschte Art. Der Zug stand schon da. Die Mutter stieg ein. Ich bin eine Weile auf dem Bahnsteig stehen geblieben und habe dem Zug mechanisch hinterhergewunken. Als der letzte Wagen am Horizont verschwunden war, überfiel mich schlagartig ein erbarmungsloser Schüttelfrost. Zum Glück war der Weg vom Westbahnhof zu meiner WG in der Turmburggasse nicht weit. Fast hätte ich es nicht bis nach Hause geschafft. Während der zwei U-Bahn-Stationen bis zur Neubaugasse schoss das Fieber in meine Glieder, ich schwitzte, und als ich den Berg runterging, am Apollo Kino vorbei, verlor ich fast das Bewusstsein. Die Nacht unter dem undichten Fenster. Mutters Abreise. Die Nachricht vom Zusammenbruch des Vaters. Ich wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben.
    Eine ganze Woche habe ich fiebrig im Bett verbracht, erst als mein Rollenlehrer Thomas zu mir nach Hause kam, um nach mir zu sehen, fand ich die Kraft, die Wohnungwieder zu verlassen und einen Arzt aufzusuchen. Thomas bestand darauf. Du brauchst eine Krankmeldung, hat er mich gewarnt, sonst fliegst du von der Schule. Zuerst vermutete der Arzt das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber da war nichts zu finden, alle Blutwerte waren in Ordnung, keine Entzündung im Körper, kein Mangel, nichts. Nur diese plötzliche Müdigkeit. Das Fieber. Der Schüttelfrost. Das ganze dauerte noch drei Wochen, Thomas, ein junger Schauspieler, der damals am Burgtheater engagiert war, besuchte mich jeden Tag und wir arbeiteten zu Hause weiter, so lange es ging, mal eine halbe Stunde, mal zwei Stunden, einen zusammengeschusterten Monolog aus Schillers
Jungfrau von Orleans
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