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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition)
Autoren: BjÖrn Bicker
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verunsichern, und er habe den Journalisten in die Mikrofone gesagt, dass er den Bart trage, weil er ihn schneller mache, und er habe gesehen, dass alle russischen Trainer wie wild in ihre Blocks kritzelten, und das habe ihn angespornt und er habe angefangen zu fantasieren. Der Bart ließe das Wasser schnittiger und eleganter um seinen Mund herumgleiten, das verschaffe ihm hinten, ab der Hüfte, mehr Auftrieb und so sei seine Wasserlage schlicht viel, viel besser als die der Konkurrenten. Nach dieser Geschichte habe er sich den Bart natürlich nicht mehr abrasieren können, er hätte sich lächerlich gemacht. Plötzlich sei der Bart zu einer Waffe der psychologischen Kriegsführung geworden. Die Russen habe gewurmt, dass man sich so schnell keinen Oberlippenbart wachsen lassen konnte. Ein Jahr später jedoch, bei anderen Wettkämpfen, Mark Spitz genießt die Pointe, hätten alle russischen Schwimmer Oberlippenbart getragen. Mark Spitz erzählt diese Geschichte mit einem überlegenen, arroganten Siegerlächeln. Man sieht in dem Film, wie er sein Publikum bedient, das Publikum, das immer wieder die gleichen Geschichten hören will. Seht her, das ist lange vorbei, aber so dumm waren diese Typen damals, diese Russen, denen haben wir’s ordentlich gezeigt. Give me five! Die mutwillige Reduktion von Komplexität macht ihn zum Helden. Diesen Schwimmer, der mit Einundzwanzig so aussah, als würde er in München mit Freddy Mercury zusammen in die Sauna gehen. An diesenTypen dachte der Vater, wenn er mich Mark Spitz nannte, diesem Mark Spitz musste der Vater an jenem Tag sehr nahe gekommen sein, an diesem 29. August 1972, dem Tag der Entscheidung über 200 Meter Freistil, der Tag, an dem das Foto entstanden ist, der Tag, an dem Deine Mutter freudig in die Kamera geblickt hat und der Vater sein Gesicht zu verbergen suchte, der Tag, an dem Mark Spitz in 1:52,78 seine dritte Goldmedaille geholt hat, der Tag, an dem Mark Spitz den gesamten Sport für alle Ewigkeiten revolutioniert hat, weil er am Abend bei der Siegerehrung seine grünen, ungetragenen Adidas-Turnschuhe in die Kameras gehalten hat, in alle Kameras, die auf ihn gerichtet waren, der Tag, an dem die Spiele der Amateure beendet waren und das Zeitalter der Profis und ihrer Sponsoren eingeläutet wurde, der Tag, als der Protest der Ostblockdelegationen gegen diesen kapitalistischen Gestus vergeblich aufbrandete, der Tag, an dem Mark Spitz zum Boten der neuen Welt und ihrer neuen Bilder geworden war.
    Als ich mit vierzehn oder fünfzehn das erste Mal mit dem Vater über Politik gestritten habe, nannte er mich danach Rosa Luxemburg. Auch später immer wieder: Rosa Luxemburg. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Anerkennung und Ekel, aus Witz und Schmähung. Wenigstens eine Frau, habe ich gedacht. Vor einer Weile, Holger und ich waren gerade dabei, unsere Wohnung umzuräumen, hat Holger gesagt: Wenn wir ein Kind bekommen, eine Tochter, dann nennen wir sie Rosa. Ich habe gesagt, dassich diesen Namen hasse. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr über Kindernamen reden will. Nicht bevor ich schwanger bin.
    Als ich nach meinen zweitausend Trainingsmetern und dem imaginierten Weltrekord erschöpft zu unseren Liegestühlen zurückkam, drehte ich Holger beim Abtrocknen den Rücken zu. Als ich mir das Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt hatte, sagte Holger: Das Muttermal auf deiner Schulter ist rot. Am Rand sieht es entzündet aus. Holger kratzte fachmännisch an dem Fleck herum. Lass das, habe ich ihn gebten, das ist vom Chlor, das kenne ich schon, kein Grund zur Besorgnis. Er strich, wie zur Entschuldigung, mit seinem Handrücken über meine Haut. Deine Wirbel sind spitz, sagte er sanft, du hast Gänsehaut. Holger nahm meine Hand und wollte meine Finger küssen. Ich habe ihm den Zeigefinger in die Nase gesteckt. Er hat den Kopf nach hinten gerissen, sein Magazin genommen und schnaufend darin herumgeblättert. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er manchmal an seinen Job denke, wenn er diese alten Leute sehe. Überlegst du, wo du sie überall operieren könntest? Straffen, Fett absaugen, Lifting? Holger ließ sein Magazin fallen und richtete sich auf. Wieso sollte man alte Leute operieren, denen es offensichtlich gut geht. Er verzog keine Miene, er wollte streng aussehen. Ich mache diesen Facharzt nicht, damit du eine bessere Optik im Schwimmbad hast. Da gibt’s wirklich Sinnvolleres. Hier, schau dir diese Bilder an. Ernahm sein Magazin vom Boden und wedelte mir damit vor
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