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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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sie auf den Füßen des anderen ab.
    Aus der Wohnung strömt Wärme und der blasse Geruch fremder, gewaschener Wäsche. Ein olfaktorisches Lasso, das nicht für uns bestimmt ist. Unsere Lassos liegen schlaff auf dem Boden. Zwischen uns die Tasche mit Flos Winterkram und eine dicke Wand aus Nichts.
    Und dann drehe ich mich wortlos um und gehe. Dies hier ist eben doch nicht mehr als die Übergabe von Kleidung, keine Hintertür, kein Versuch. Es ist, was es ist, und was es ist, ist kalt und furchtbar. Und auch Flo besteigt kein weißes Pferd, sondern schließt die fremde Wohnungstür leise hinter sich. Das kann ich noch hören auf dem Weg nach unten.
    Kein Weihnachtsbaum dieses Jahr.
     
    Auf der Straße zieht mich plötzlich nichts in mein Papamobil. Die Vorstellung, jetzt in diesem kleinen Wagen eingeschlossen zu sein, engt mich ein.
    Also bleibe ich auf dem Bürgersteig stehen und lege meinen Kopf auf meiner Brust ab. Meine Füße verschwinden bis über die Knöchel in Schnee, und es sieht aus, als hätten sie sich aufgelöst. Als würde ich langsam verschwinden. Und im Grunde ist es das, was ich jetzt dringend möchte. Verschwinden. Nirgendwo sein. Nicht in der Karibik, nicht in Flos Armen. Sondern weg. In mir breitet sich eine dumpfe Ruhe aus, und ich höre auf zu atmen. Mir fehlt jetzt die Kraft für das ewige Einundausundeinundaus, also lasse ich es vorerst einfach.
    Neben meinen Beinstümpfen bilden sich im Schnee kleine Löcher. Als würden unter der weißen Oberfläche winzige Schneeholzwürmer fieberhaft arbeiten, tauchen überall aus dem Nichts winzige Durchbrüche auf. Eine Weile beobachte ich fasziniert dieses merkwürdige Phänomen, nur allzu bereit, mich von Unwichtigem ablenken und einfangen zu lassen, bis ich bemerke, dass die Erklärung peinlich naheliegt. Ich weine. Meine Tränen schmelzen kleine Einbuchtungen in die weiße Oberfläche. Ich schließe die Augen, um den Schnee nicht weiter zu zerstören und der Illusion, zu verschwinden, näherzukommen. Ich möchte gern nichts mehr spüren jetzt. Ich möchte jetzt bitte ausgeschaltet werden.
    »Bye
    I’m on standby
    Out of order or sort of unaligned
    Powered down for redesign
    Bye bye
    I’m on standby
    According to the work order you signed
    I’ll be down for some time
    I’ll be down for some time«
     
     
     
    (Und dann bin ich so ausgeschaltet, dass ich die Umarmung, die mich von hinten umschließt, fast nicht bemerke.)

Memo
    Ich hatte mit jemand anderem Sex in unserem Bett.
    Es fing grade an, kalt zu werden draußen, in mir sowieso. Und ich war wütend. Weil du irgendwo warst und dich nicht entscheiden konntest.
    Nichts war richtig. Haut, Körper, Temperatur, Geräusche, Blicke, Geschmack und der Geruch, vor allem der Geruch. Alles war falsch, und ich wurde fast wahnsinnig, so verzweifelt war ich auf der Suche nach etwas von dir in diesem fremden Körper. Wie besessen habe ich in jeder Ritze nachgesehen, ob ich dich irgendwo finden kann. Ob irgendwas vielleicht nach dir riechen, mich an dich erinnern, trösten könnte.
    Da war nichts.
    Aber ich habe nicht aufgehört. Ich habe immer weiter gesucht. Ich habe alles angefasst und geküsst und gesaugt und gekratzt, und ich habe mich gekrümmt und geschwitzt und geheult und bin gekommen. Es war alles ganz viel und voll und laut. Aber in mir drinnen war es ganz leise.
    Wir haben deine Seite des Bettes nicht berührt.
    Darauf habe ich geachtet.
    Versprochen.

Danksagung
    Ich danke Ansa, Boris,
    Jana, Miriam, Oliver, Rahel, Stephanie, Till und Thea.
    Außerdem meiner gesamten Familie.
    Und Sebastian.
     
    Ohne Euch: nichts.
    Nichts!

Über Sarah Kuttner
    Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen ›Sarah Kuttner – Die Show‹ (VIVA) und ›Kuttner.‹ (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Zuletzt war sie dort mit ›Kuttners Kleinanzeigen‹ und ›Ausflug mit Kuttner‹ zu sehen. Ihre Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. ›Mängelexemplar‹ (2009) war ihr erster Roman und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Sarah Kuttner lebt in Berlin.
     
    Mehr zur Autorin unter: www.sarahkuttner.de und facebook.com/SarahKuttner
     
    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
     
     
    © 2011 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
     
    Covergestaltung: Jonas Natterer/www.diebuben.com
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