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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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hinterfragen und zu interpretieren. Geh einfach davon aus, dass er seine Winterklamotten braucht, weil es draußen unter null Grad sind.«
    Mir sickern Tränen in die Augen. »Das ist alles so kacke!«
    Jana sieht mir so direkt in die Augen, dass es sich fast wie eine Ohrfeige anfühlt, und sagt: »Ich weiß.«

I ch fahre wirklich gerne Zug. Ich mag alles daran. Den Geräuschteppich, den Mitreisende aus leisen Meckereien, umständlichem Koffergeschiebe und schwerem, aus den Sitzplatzfallgeächze weben. Ich mag die eher verachtete routinierte Freundlichkeit des Zugpersonals und den schlechten schwarzen Tee des Board-Bistros. Wir sind in meiner Kindheit oft mit dem Zug an die Ostsee gefahren, so dass all die heute so verpönten Eigenschaften einer Bahnfahrt immer noch angenehme Urlaubsassoziationen in mir wecken, egal wohin die Reise tatsächlich geht. Leider ist die Heimfahrt von Leipzig mit dem ICE nur knapp über eine Stunde, weshalb ich mir extra eine etwas umständlichere Fahrtvariante mit zwei verschiedenen Regionalbahnen rausgesucht habe.
    Das Rumpeln von Zug und Mitreisenden schaukelt mich in eine betrunkene Müdigkeit, die von meiner allgemeinen Erschöpfung so stark befeuert wird, dass ich in der zu warmen Regionalbahn mit glasigem Blick auf schmutzigen Schneeregen draußen immer wieder wegnicke. Und obwohl Schlaf ja immer nur mit den allerbesten Attributen belegt wird, spüre ich, dass es mir nicht guttun wird, jetzt wirklich einzuschlafen. Ich kenne meinen Kummer. Er wird durch Schlaf nicht geheilt, sondern ungleich verstärkt. Mein Kopf-Herz-Team ruht sich nicht aus, wenn ich schlafe, es fängt an, in der warmen und feuchten Brutstätte meines Schlafes zu gären. Wenn ich jetzt schlafe, werde ich später aufwachen und eine Herztransplantation benötigen. Und woher sollen die routiniert freundlichen Damen und Herren vom Personal denn so schnell ein Spenderherz nehmen?
    Während mein Kopf trotzdem immer wieder träge auf die Seite fällt, denke ich, dass es jetzt gut wäre, jemanden bei mir zu haben, der Sätze sagt wie: »Bleib bei mir. Schlaf jetzt bloß nicht ein.« Oder: »Sieh mich an! Welches Jahr haben wir? Wie heißt der amtierende Präsident?« Sätze, die in Filmen Leben retten. Da aber niemand mit mir spricht und mir meine Schläfrigkeit die logische Weitsicht nimmt, indem sie mir eben doch alle gängigen Ausruh-Klischees vorgaukelt, lasse ich den Kopf irgendwann einfach auf der Seite liegen, auf die er grad gefallen ist, und gebe auf. Vielleicht ist ja dieses Mal alles anders, und ich werde nicht nur mit roten Apfelbäckchen ausgeruht, sondern auch vollkommen liebeskummerverarbeitet aufwachen. Vielleicht könnte Gevatter Schlaf nur ein einziges Mal seinen verdammten Job tun heute. Bitte.
     
    Meine zugfahrtgestählte innere Uhr weckt mich exakt fünf Minuten vor der Einfahrt in den Heimathafen, und kurz bevor mein Herz mit einem furchtbar nassen Geräusch auseinanderplatzt, kann ich grade noch feststellen, dass sich, während ich geschlafen habe, der Jack-Russel-Terrier meiner Sitznachbarin auf meine bestrumpften Füße gelegt hat. Geistesgegenwärtig bewege ich mich nicht und starre auf das warme schlafende Tier auf meinen Füßen. An der Vorderpfote hat es einen schmutzigen Verband, auf den jemand ein schiefes Herz gemalt hat. Und das erinnert mich an mein Herz, oder besser gesagt: Mein Herz nutzt den billigen Hinweis, um selbständig an sich zu erinnern, und dann passiert es: das nasse Platzen.
    Der Hund hat es auch gehört, denn er hebt erschrocken den Kopf und sieht mich vorwurfsvoll an. Da mir aber grad ein überlebenswichtiges Organ in die Binsen geht, kann ich mich jetzt nicht entschuldigen, sondern muss mich darauf konzentrieren, meine Haut zusammenzuhalten, damit niemand hier im Zug von der furchtbaren und blutigen Explosion in meinem Körper etwas mitbekommt. Ich ziehe also sehr vorsichtig meine Füße unter dem kleinen, warmen Hundekörper hervor, schlüpfe in meine Schuhe und steige umständlich über das immer noch bräsig zu meinen Füßen liegende Tier, um den Zug zu verlassen. Meine Sitznachbarin, die Hundebesitzerin, beobachtet meine Turnkünste eher belustigt als besorgt und kann natürlich nicht wissen, dass ihre Frage danach, ob alles »okay« sei, nun wirklich zu einem ungünstigen Zeitpunkt kommt und daher nicht vernünftig beantwortet werden kann. Also nicke ich beruhigend und merke, dass ich stattdessen aber verneinend den Kopf schüttle, und um die arme Frau nicht
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