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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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Prolog
    E in und aus und ein und aus und ein …
    Technisch ist es nicht möglich, das Atmen zu vergessen. Blut braucht Sauerstoff, und das Zwerchfell macht irgendwas mit Unterdruck, und zack wird eingeatmet, egal ob man will oder nicht. Wobei man natürlich meistens will.
    Dennoch kann ich grad nicht. Jeder Atemzug ist ein unüberwindbares Hindernis, ein Kraftakt, für den ich zu erschöpft bin. Und obwohl mein Körper im Grunde Gehorsam leistet und »ein und aus« spielt, habe ich das Gefühl, ihm dabei mehr als nötig unter die Arme greifen zu müssen, während ich deine Tasche packe.
    Ich bin eine halbe Stunde um deinen Schrank herumgeschlichen, habe mich gefürchtet vor den nur noch halb gefüllten Regalen. Unvollständige Stapel mit T-Shirts, Pullovern (dick) und Pullovern (dünn) und Strickjacken (kein Platz auf der Kleiderstange dafür, zu viele Kleider von mir) und Hosen. Deine Unterwäsche ist vollständig weg. Davon kann man ja auch nie genug haben.
    Kleine, viel zu flache Stapel von Kleidung. Traurig sehen sie aus, aber ordentlich! Denn hin und wieder lege ich sie ordentlich zusammen. Weil ich es ordentlich mag und weil ich den Akt mag. Deine Klamotten, die du in hilflosen Outfitwahlmomenten (wie sehr ich dich dafür liebe!) jedes Mal frustriert und unordentlich zurück in den Schrank stopfst.
    Und dann der Geruch. Ich kann doch kaum selbständig atmen, wie soll ich denn noch den Geruch deiner Wäsche ertragen? Wie durch Zauberei riecht deine Kleidung anders als meine. Vielleicht weil ganz unten in deinen Stapeln T-Shirts liegen, die wir noch nie zusammen gewaschen haben. T-Shirts, für deren Rettung du immer exotische Gründe findest. Und wenn dir die exotischen Gründe ausgehen, dann kuckst du einfach bestimmt, und ich seufze und falte alte Shirts nach ganz unten im Stapel. Und dort liegen sie jetzt und riechen so sehr nach dir, dass sowohl ich als auch mein Körper vergessen zu atmen.
    Aber jetzt muss geatmet werden, denn draußen schneit es, und es sind wie letzten Dezember vollkommen unerwartet minus zehn Grad, und als du gegangen bist, waren es aber noch plus neun Grad, und es konnte ja keiner wissen, dass es so schnell so kalt wird, und du brauchst doch deine dicke Jacke und die dicken Pullover und deine Schals und Handschuhe, sonst ist dir kalt, und ich wünschte, ich könnte all deinen Winterkram übereinanderziehen, damit mir nicht so kalt wäre.

1.
    Du bist immer so fixiert auf das, was noch fehlt.
Und jetzt schau nicht so gequält – es sieht scheiße aus.
     
    Gisbert zu Knyphausen, »Spieglein, Spieglein«

D as Bad ist schön und hell und stinkt.
    Flo steht mit hängenden Schultern neben mir und macht seinen »Keine Ahnung«-Blick, während die große Frau nicht aufhört, über Asien zu brabbeln. »Ist ja ’ne ganz andere Welt! Aber uns war Deutschland schon immer irgendwie zu nass und kalt und dunkel und festgefahren. Unsere Tochter soll mehr sehen von der Welt als das hier!«
    Wow. Sehr innovativer Standpunkt. »Das hier«, was ihre Tochter nicht mehr sehen soll, ist eine eigentlich ganz okaye Drei-Zimmer-Wohnung mit Dielen und falschem Stuck und Flügeltüren und einem großen, hellen Bad, das stinkt.
    So sehr, dass ich leider gar nicht das Große Ganze sehen kann. Ich bin genervt: Gibt es für Wohnungsbesichtigungen nicht, wie für die meisten Lebenssituationen auch, eine Art moralischen Regelkatalog für das Verhalten vor und während der Besichtigung durch potentielle Nachmieter? Man sollte meinen, dass zumindest die Klassiker gelten wie: ein bisschen aufräumen, keine Schlüpfer rumliegen lassen und nicht kurz vor dem vereinbarten Termin kacken gehen, ohne zu lüften.
    Aber es ist ja nicht nur das Bad. Die ganze Wohnung riecht irgendwie falsch. Nach Muff und schlechtem Atem und Dinkel.
    Letzteres ist vermutlich Unsinn, ich weiß gar nicht, wie Dinkel riecht oder überhaupt aussieht, aber die große, strenge Frau und ihr ungleich luschiger Anwaltsmann sehen aus wie Leute, die irre gern Sachen mit Dinkel machen. Leider ist der Eigengeruch einer Wohnung nur geringfügig nachträglich manipulierbar. Im Grunde muss man davon ausgehen, dass sie für die gesamte Mietdauer so riecht, wie vom Vormieter übergeben, es sei denn, man experimentiert dauerhaft und exzessiv mit Duftölen und Sprays, und so sind Flo und ich nicht.
    Ein weiterer Dealbreaker ist, dass die Vormieter ganz offensichtlich Idioten sind. Und der Gedanke daran, die nächsten zehn Jahre deren in der gesamten Wohnung
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