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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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vollkommen zu verwirren, sage ich ein das angedachte Nicken unterstützendes »Jaja«, was mit dem sich weiter schüttelnden Kopf sicher noch verwirrender ist, also gehe ich dann jetzt einfach mal.
     
    Mein Körper fühlt sich an, als wäre er aus Eiswaffel. Nicht diese furchtbare dicke, süße Wohlstandswaffel, sondern die feine, oblatenähnlich geschmacklose. Ich spüre ein leises Knistern, als könnte meine äußere Waffel-Schale jederzeit zerbrechen. Mein Herz pumpt so viel fauligen Schmerz durch meine Adern, dass ich ganz vergiftet und kraftlos bin. Normalerweise sind mir viele Menschen auf einem Haufen eine Plage, jetzt geben sie mir Sicherheit. Sie scheinen mich zu stützen. Sie tragen mich wie eine Armee Ameisen aus dem Hauptbahnhof. Mein leichter Waffelkörper treibt vollkommen bewegungs- und willenlos durch die riesigen gläsernen Hallen, mit versteinertem Gesicht um Fassung und vor allem Zusammenhalt bemüht. Zerbrechen geht jetzt hier keinesfalls. Also klappe ich das Visier herunter und treibe mit den vielen Menschen aus dem Gebäude. Auf dem Bahnhofsvorplatz lassen mich die fleißigen Ameisen los und und strömen in Taxis, Busse und fremde Arme, und plötzlich bin ich ganz allein. Wieder vollkommen korsettlos. Meine Augen brennen, denn ich versuche, nicht zu blinzeln. Unmöglich, abzusehen, was alles passieren könnte, würde ich den Augen kurz Ruhe verschaffen. Also stiefle ich steif und mit harter Schale und faulem Kern zu meinem Auto. Der Schneeregen kneift mich in die Wangen wie eine doofe Tante und versucht, mich zu knacken, und das Waffel-Ich knackt tatsächlich ein wenig stärker, und meine Unterlippe fängt an zu schlottern, aber die restlichen hundert Meter zum Wagen müssen bitte noch zu schaffen sein, also laufe ich schneller und falle mit Müh und Not und letzten Kraftreserven in meinen kalten und klammen Peugeot. Ich schlage die Tür hinter mir zu und warte. Zehn Sekunden lang starre ich aus der schmutzigen Frontscheibe, sehe verschwommen halbfertige Schneeflocken vorbeistürmen und wundere mich, dass nichts passiert. Dann erst begreift mein Körper, dass jetzt kurz losgelassen werden darf, und mein schwerer Kopf fällt mit einem dumpfen »Klonk« auf das Lenkrad.
     
    Es ist merkwürdig banal und dann eben doch überraschend, wie sehr mir mein Herz weh tut. Es wurden Trilliarden Lieder über Kummer geschrieben, Hunderte davon habe ich gehört. Ich müsste es eigentlich besser wissen. Und dennoch liege ich gelähmt vor Schmerzen auf meinem Lenkrad und wundere mich über die Körperlichkeit meines Leids.
    Die Leichtigkeit, die mir das Fehlen von Flo beschert, ist unerträglich. Wird nicht immer gesagt, dass man sich so schwer fühlt? Oder ist damit nur das poetische Herz gemeint? Denn ich fühle mich furchtbar leicht. Vollkommen außer Kontrolle. Als ob Flo ein schweres Gewicht in meinem unsichtbaren Rucksack gewesen wäre. Ein Stück Blei, das mich immer am richtigen Ort ankert. Ohne ihn schwebe ich haltlos wie ein Luftballon durch die Gegend, stoße dauernd gegen Wände und bin unfähig, mich irgendwo festzuhalten, irgendwo anzukommen. Jetzt bin ich viel zu leicht. Mir fallen Bruchstücke von irgendeinem Gedicht von Erich Fried ein.
    »Gegen das alles du als mein Gegengewicht? Vielleicht, wenn du wirklich bei mir wärest, um mich zu halten, um zu liegen auf mir in der Nacht, damit dieser Sog mich nicht fortreißt.«
    Man sollte vielleicht wirklich häufiger all diesen Liedern und Gedichten über Liebe glauben. Sie ergeben plötzlich so viel Sinn.
    Und auf der anderen Seite kann ich diese vielbesungene Leere überhaupt nicht nachvollziehen. Ich fühle mich nicht leer. Ich bin bis obenhin voll mit Traurigkeit und Verlangen. Am schlimmsten jedoch ist, dass ich voller Zeugs bin, das Flo gehört. Sachen, die ich ihm erzählen möchte. Geschichten, Gefühle und körnige Momentaufnahmen, die nur für ihn bestimmt sind. Tausend Dinge, die für niemanden sonst einen Mehrwert haben. Sie füllen mich unangenehm aus, kitzeln unter der Schädeldecke. Jeden Tag kommt etwas hinzu. Und ich sammle es und trage es mit mir herum und weiß nicht, wohin damit. Ich brauche einen Ort, um all diese
Wir
-Dinge loszuwerden. Keine Müllhalde, aber vielleicht einen Recyclinghof. Oder am liebsten nur ein Zwischenlager. Denn früher oder später müssen sie an den Ort, an den sie gehören.
     
    Meine Knie sind ganz feucht. Durch den günstigen Winkel, in dem mein Kopf auf dem Lenkrad liegt, ist keine meiner Tränen
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