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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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Ritual berührt mich, als hätte es sich eben zum ersten Mal ereignet.
    Und so teile ich auch meinen Entschluss nicht am Telefon, sondern per E-Mail mit, schreibe Flo, dass ich nicht ohne ihn sein will, sollte. Dass mir zwei Wochen genug sind, dass mir sein Kopf von außen und innen fehlt und dass er umgehend aus Arnes und Theas Flitterwochen verschwinden und in unsere eigenen zurückkommen soll. Wir hätten schon viel zu lange nicht mehr getanzt!
    Und auch Flo hält sich an die schönen alten und goldenen Regeln und antwortet per Mail. Dass er nicht will. Nicht kann. Dass er ohne mich sein muss.
    Und dann werde ich zusammengequetscht, als würde die gesamte Weltbevölkerung gleichzeitig an den Schnüren meines Korsetts ziehen, und ich übergebe mich auf meine Füße. Wenigstens trage ich dafür die richtigen Schuhe.

E s ist tatsächlich still im Auge des Sturms. Das Blut rauscht mit wütender Kraft durch meinen Körper wie eine rachsüchtige Flutwelle. Jede Ader, jede kleinste Kapillare wird mit Druck durchspült, und mein Herz schlägt mit solcher Wucht, dass ich mit jedem Schlag ein wenig nachbebe. Das Tosen in meinem Körper ähnelt einem Kreischen und lullt mich dennoch in eine merkwürdige Blase aus Stille ein.
    Und da sitze ich nun.
    Alles in Flos Mail ergibt furchtbaren Sinn. Keinerlei »vielleicht«, nur eine Menge »ich weiß nicht, ich kann nicht«. Nichts suggeriert, dass ein Kampf sich lohnen würde. Nichts macht glauben, dass ein Anruf etwas ändern würde. Alles sagt: »Fass mich nicht an. Nicht jetzt und auch nicht demnächst.«
    Ausgebremst.

» D as hier ist so dermaßen der falsche Zeitpunkt für so einen Quatsch, das weißte, wa?«
    Jana schubst mich verärgert an, was zur Folge hat, dass wir beide unkontrolliert schaukeln und mir Salzwasser ins Auge läuft.
    »Was denn? Stimmt doch!«
    »Du kannst das ganz gut gebrauchen, glaub mir!«
    Bullshit. Wenn ich eines grade nicht ganz gut gebrauchen kann, dann so Yuppiescheiße wie »Floaten«. Natürlich ist die Geste eine liebevolle. Floaten fällt ja ganz offensichtlich in die Kategorie »Wellness«. Vermutlich sogar in die schlimme Unterkategorie »Wellness für die Seele«. Böse Absicht ist Jana also wirklich nicht zu unterstellen, dennoch ist der Zeitpunkt für ein schönes Rumliegen in nahezu gesättigtem Salzwasser doof gewählt. Es ist elf Uhr mittags, ich habe fast zehn Stunden geschlafen, einen Kaffee getrunken und könnte wacher nicht sein. Jetzt in einem Pärchentank voller Lake zu schweben und an nichts zu denken fällt mir denkbar schwer. Dennoch versuche ich, wortwörtlich die Füße stillzuhalten. Jede Bewegung in dem flachen Wasserbecken führt zu der Sache wenig zuträglichen Wellenbewegungen. Es ist schwer genug, den Zustand des tatsächlichen Schwebens zu erreichen. Ihn zu halten scheint unmöglich. Obwohl ich zumindest theoretisch ein wenig Faszination für das Konzept Floaten an sich aufbringen kann. Wasser- und Raumtemperatur sind so auf die des Körpers abgestimmt, dass man mit geschlossenen Augen tatsächlich keinen Temperaturunterschied mehr spürt und ein schwebeähnliches Gefühl bekommt. In dem Prospekt standen auch Losungen wie: Synchronisation der Gehirnhemisphären und Entlastung des Bewusstseins von allen Sinneswahrnehmungen. Dieser Teil funktioniert nicht. Natürlich nicht. Nicht um elf Uhr mittags. Nicht bei jemandem, der eh schon die Füße stillhalten muss. Wobei ich auch den gewählten Zeitpunkt Jana nicht anlasten kann. Alle Abendtermine waren vergeben, und wir dürfen überhaupt nur nackig in fancy Salzwasser rumliegen, weil irgendein Pärchen kurzfristig abgesagt hat.
    Bleibt also nur zu bemeckern, dass wir überhaupt so einen Unsinn machen, aber Jana wollte ganz großes Ablenkungsprogramm bei einem meiner seltenen Besuche in Leipzig auffahren, weshalb wir gestern schon stundenlang auf den Spuren diverser berühmter Leute (Johann Sebastian Bach, Mendelssohn-Bartholdy, Hennes & Mauritz) gewandelt sind. Am Ende des Tages war ich tatsächlich so erschöpft, dass man mich durchaus mit einer schönen Floating-Nummer hätte kriegen können. Jetzt aber macht mich die Ruhe irre.
    »Wie lange noch?«, frage ich leise. Allein die Bewegung meines Kiefers beim Sprechen löst kleine Wellen aus, die Jana zeitversetzt in Bewegung versetzen, so dass unsere Arme aneinanderfloaten.
    »Keine Ahnung. Darum geht es doch. Jegliches Zeitgefühl verlieren!«
    »And I think it’s gonna be a long long time«. Ich fange an, vorsichtig,
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