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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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Freund in der Minute, in der ich Ihr Geschäft verlasse, anrufen, nicht wahr?«
    »Vermutlich«, grinse ich und stehe auf. »Vielen Dank für die vielen weisen Worte. Ehrlich, das war gut.«
    »Bekomme ich meinen Anzug jetzt günstiger?«
    »Nein. Aber Sie müssen den Tee nicht bezahlen.«
     
    Ach, wie ich kaltes Schmuddelwetter liebe! Nichts gibt mir mehr das Gefühl von verdienter Sicherheit und Nestwärme als furchtbares Wetter. Obdachlose sehen das sicher zu Recht anders, aber Menschen mit Obdach dürfen dann ohne schlechtes Gewissen zu Hause rumgammeln und heizungswarm aus dem Fenster sehen und sich gemütlich fühlen. Um dieses Gefühl zu forcieren, laufe ich in den kalten Monaten manchmal vom Atelier nach Hause statt die stinkenden und kondenswassernassen öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Gemütlichkeit fetzt mit höherem Leidensdruck mehr. Also sehe ich zu, dass ich ordentlich durchgefroren bin, damit ich mich umso mehr über mein warmes Heim freuen kann. Flo findet das krank. Aber Flo ist auch einer der Menschen, die das ganze Jahr an der Sonne leben möchten. Denen die Jahreswechsel vor allem der kalten Monate wegen nicht gefallen. Wenn er könnte, würde er tatsächlich am liebsten auf den Kanaren wohnen.
    Ach Flo.
    In den letzten zwei Wochen haben wir, bis auf ein paar schüchterne und eher administrative SMS , tatsächlich kaum miteinander kommuniziert. Flo gewährt mir den Raum, den ich brauche, und die Zeit vergeht wie im sprichwörtlichen Fluge. Noch zwei weitere Wochen, und ich werde eine Entscheidung treffen müssen.
    Offenbar habe ich heute nicht nur zum Laufen, sondern auch zum Gehen die falschen Schuhe an, meine Chucks sind innerhalb kürzester Zeit mit braunem Regenwasser vollgesogen. Noch mehr Grund für einen großen Klumpen Gemütlichkeit zu Hause. Und während ich wie ein junger Mann aus der britischen Arbeiterklasse geduckt meine Zigarette mit einem Dach aus Hand schützend rauche, wird mir klar, dass ich gar nicht mehr Zeit brauche!
    Ich will nicht ohne Flo sein. Ich will ihn in meinem Leben haben. Meine Sätze von ihm beendet wissen. Ein Leben ohne Flo ist vollkommener Quatsch!
    Über die Heftigkeit dieser Erkenntnis verdutzt, bleibe ich abrupt stehen. Meine Zigarette, nur wenige Sekunden ungeschützt, wird von einem fetten herabstürzenden Regentropfen getroffen und erlischt.
     
    Flo und ich sind keine großen Telefonierer. Den größten Teil unserer Fernkommunikation erledigen wir über das geschriebene Wort. SMS , Mails, Zettel. Bevor wir zusammengezogen sind, haben wir uns regelmäßig Postkarten und kleine Briefe geschickt. Da ich telefonieren furchtbar finde, hat sich Flo einfach irgendwann angepasst und nicht mehr angerufen. Wenn er dann doch mal anruft, sage ich jedes Mal: »Du rufst sicher nicht ohne Grund an!«, ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen Flo am Telefon stundenlang plauderte, bevor er sagte, weshalb er eigentlich anrief. Seitdem melden wir uns beide immer mit diesen Worten. Selbst wenn ich ihn anrufe, sage ich als Erstes immer: »Du rufst doch nicht ohne Grund an!« Unglaublich, wie viele kleine Quatschrituale wir uns über die Jahre zu eigen gemacht haben. Es gibt so viele Merkwürdigkeiten, die wir gemeinsam gezüchtet haben und nun mit Liebe pflegen, dass mir beim Gedanken daran ganz warm wird. Wenn wir zusammen ins Kino gehen, was wir furchtbar oft machen, hält Flo mir jedes Mal seinen Apfelschorlebecher hin, weil ich es liebe, die kleinen Blasen auf dem Plastikdeckel einzudrücken. Er weiß fast immer, ob ich Eis oder Nachos will, und direkt zwischen Werbung und Filmstart wünscht er mir »Viel Spaß beim Film!«. Wenn unsere Vorrecherche schlampig war und wir daher versehentlich in einem Film mit vielen Kanonen und Rennerei sitzen, sieht Flo mich von der Seite an und sagt, die Stimme voller Mitleid: »Du
hasst
das!« Wenn wir alles richtig gemacht haben und in einem Film über das tragische und vorzeitige Ende der Welt, heraufbeschworen von Viren/Zombies/Außerirdischen, sitzen, lehnt er sich zufrieden zurück und sagt: »Wir
lieben
das!« Wenn in einem eigentlich tollen Endzeitfilm dann aber doch zu viele Verfolgungsjagden und zu wenig eindrucksvoll in sich zusammenstürzende Megametropolen vorkommen, dann nimmt Flo meine Hand und sagt: »Du hättest gern mehr Tote, stimmt’s?«
    Das Wissen, wie viele Löffel Zucker Flo in seinen Tee möchte (drei!) und wie oft er sich pro Duschgang einseift (zweimal!), hat sich nie abgenutzt. Jedes wiederkehrende
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