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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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mein Gesicht herabgelaufen, sondern direkt, der Schwerkraft stoisch folgend, aus dem Auge herab auf meine Beine gestürzt. Und dort liegen sie in einem dunkelblauen vorwurfsvollen Fleck.
    Ich lege den Rückwärtsgang ein und krieche aus meiner Parklücke. Als mir klar wird, dass ich keinerlei Ziel habe, schalte ich den Motor wieder aus.
    Wo soll ich denn jetzt hin? Die Wohnung ist ein von Flo emotional besetztes Haus. Herrje, wenn es nicht so tragisch wäre, ich müsste drüber lächeln. Ich habe kein Zuhause. Ich bin emotional obdachlos. Hat das schon mal jemand über die Liebe geschrieben? Vermutlich. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück, schließe die eh vollkommen verschwollenen Augen und denke nach. Wo möchte ich jetzt sein? Wo würde es am wenigsten schmerzen?
    Die einzige richtige Antwort ist keine Option.
    Also bleibt eben doch nur unsere Wohnung. Ein Ort, an dem ich irgendwann lernen muss, mit mir allein zu leben. Also kann ich genauso gut jetzt damit anfangen.

I ch bin mir nicht sicher, ob der Umstand, dass ich Flo seine Winterklamotten vorbeibringe, statt sie von ihm abholen zu lassen, ein geschickter Schachzug oder schlichte Augenwischerei ist. Der Gedanke daran, meinen schönen, schmalen Freund in unserer Wohnung zu haben und wieder ziehen lassen zu müssen, ist furchtbar. Aber bedeutet das nicht auch, dass ich in die hässliche Falle der umgekehrten Psychologie getappt bin? Möchte ich nur verhindern, dass schon wieder gegangen wird? Dass ich schon wieder gegangen
werde
? Will ich dieses Mal einfach nur selbst gehen?
    Über diese ganze »Independent Women Part 2«-Scheiße runzle ich die Stirn. Teils aus Verachtung, teils aus Unsicherheit. Ich möchte keine Spielchen spielen. Ich will meinen Freund nicht mit »Brigitte«-Weisheiten wiederbekommen. Dennoch fühle ich, dass dieses erstmalige Wiedersehen nach nun fast sechs Wochen eine Gelegenheit ist. Ich kann nur noch nicht richtig sehen, wofür.
    Muss ich darauf spekulieren, dass mein bloßer Anblick Flo das Herz öffnet? Sollte ich mich hübsch machen, ein wenig von meinem Parfüm benutzen, um olfaktorische Lassos zu werfen? Allein der Gedanke daran ist so lächerlich, dass ich mich schäme. Dennoch. Welche Verhaltensweisen werden von mir erwartet? Wird überhaupt etwas erwartet? Flo hatte schließlich nur um Pullover, nicht um ein Gespräch gebeten. Füge ich mich also diesem Wunsch, oder lasse ich dann einen wichtigen Berührungsmoment verstreichen?
    Mal wieder bin ich elendig gelähmt von der Auswahl. Rieke hat mir mal rotwangig vor Scham erzählt, dass sie, wenn zu viele verschiedene Gedanken in ihrem Kopf herumpoppen, manchmal heimlich ihren Rollerhelm aufsetzt. Einfach, weil er ihr das Gefühl gibt, dass die Gedanken somit eine Begrenzung hätten. Ein beschränkter Raum für Kirmes. Neues kann nicht herein, dem bereits Vorhandenen werden Grenzen gesetzt.
    Ich hätte auch gern so einen Helm. Ich würde ihn andauernd tragen.
     
    Arne und Thea wohnen nicht weit von uns. Dennoch fahre ich den verhältnismäßig kurzen Weg mit dem Auto. Ich brauche ein Papamobil für meinen Gang nach Canossa. Vier Wände, die mich vor dem Winter und den Schmerzen schützen. Das Wetter hat sich inzwischen für vernünftigen und satten Schnee entschieden, und während ich mich rauchend im Auto vor der fremden Haustür drücke und langsam aufs Romantischste einschneie, denke ich absurderweise über einen Weihnachtsbaum nach. Unsere Wohnung ist perfekt dafür. Unsere Situation nicht. Trotz der dumpf pochenden Schmerzen und der lähmenden Angst vor meinem Wiedersehen mit Flo drängt vollkommen deplatzierte Weihnachtsungeduld an die Oberfläche. Objektiv ist es jetzt, Ende der ersten Dezemberwoche, noch viel zu früh für einen Weihnachtsbaum. Da ich die Vorweihnachtszeit aber so mag, schaffe ich immer direkt Anfang Dezember einen Baum an. Für meine Verhältnisse ist es also schon relativ spät.
    Plötzlich macht es mich unverhältnismäßig wütend, dass diese Entscheidung aus aktuellem Anlass aufgeschoben werden muss. Dass meine geliebte Weihnachtsroutine von Flo gestört wird. Was soll ich denn allein mit einem Weihnachtsbaum? Was soll ich allein?
     
    Und dann stehen wir voreinander. Getrennt von einer scheinbar meterbreiten Altbauwohnungstürschwelle stehen wir und sehen uns gegenseitig stumm auf die Füße. Der erste Kontakt traf die Augen, aber wir scheinen beide zu kraftlos, um unsere Blicke dort oben zu halten, also lassen wir sie fallen, die Blicke, und legen
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