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Inside WikiLeaks

Titel: Inside WikiLeaks
Autoren: Daniel Domscheit-Berg
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Prolog
    Ich starrte auf den Monitor. Schwarzer Bildschirm, grüne Schrift. Ein paar Einträge folgten noch auf meine Zeilen. Ich schaute schon nicht mehr hin. Meine letzten Worte waren getippt. Es gab nichts mehr zu sagen. Es war vorbei, für immer.
    Julian selbst war nicht mehr im Chat aufgetaucht, jedenfalls hatte er nicht mehr geantwortet. Vielleicht saß auch er stumm vor dem Rechner, teilnahmslos, erstarrt oder aufgewühlt, irgendwo in Schweden oder wo auch immer er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich ihn nie wieder sprechen würde.
    Das »Zosch«, die Bar um die Ecke, hatte soeben seine letzten Gäste in die Nacht entlassen. Ich hörte sie angeheitert in Richtung Tram spazieren. Es war kurz vor zwei Uhr in der Nacht des 15. September 2010. Ich ließ den Rechner auf dem Schreibtisch stehen und warf mich in die Kissenecke im Wohnzimmer. Ich nahm einen Roman von Terry Pratchett und Neil Gaiman in die Hand und begann zu lesen. Was tut man in so einer Situation, was würden andere tun? Ich las, stundenlang. Dann schlief ich irgendwann ein, in Pulli und Hose, die dicken Wollsocken von meiner Oma noch an den Füßen, das Buch auf meinem Bauch. Ich erinnere mich an den Titel: »Good Omens« – Ein gutes Omen.
    Wie steigt man aus, wenn der Ort, an dem man gearbeitet hat, die ganze Welt war? Wenn es keine Kollegen gab, denen man zum Abschied die Hand geben konnte? Wenn es nur zwei schnell dahingetippte grüne Zeilen in englischer Sprache waren, die mir die Umkehr schließlich unmöglich gemacht hatten? Wenn man noch nicht einmal einen Fußtritt bekam, um einen hinauszubefördern?
    »You’re suspended« 1 , hatte Julian mir schon vor Wochen geschrieben. Als wäre er es, der das allein zu entscheiden hatte. Nun war es endgültig vorbei.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah alles aus wie immer. Meine Frau, mein Sohn, unsere gemütliche Unordnung, alles war geblieben, die Sonne fiel im gleichen Winkel durch die Wohnzimmerfenster herein. Aber es fühlte sich anders an. Ein Teil meines Lebens, der einst eine vielversprechende Zukunft zu haben schien, war für immer Vergangenheit, unwiederbringlich.
    Ich hatte den Kontakt zu dem Menschen abgebrochen, mit dem ich die letzten drei Jahre meines Lebens geteilt hatte, für den ich meinen Job aufgegeben, meine Freundin, die Familie und Freunde vernachlässigt hatte.
    Der Chat war jahrelang mein wichtigster Kanal zur Außenwelt gewesen. Arbeitete ich an einer Veröffentlichung, war er oft tagelang der einzige. Ich würde mich nie wieder einloggen. Den Zugang zu meinem Mailkonto hatte mir Julian schon vor Wochen abgeklemmt. Er hatte mir sogar mit der Polizei gedroht. Statt die Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben, wie andere aus der Gruppe mir nahelegten, schreibe ich jetzt dieses Buch.
    Wir waren einmal beste Freunde gewesen, Julian und ich, oder zumindest so etwas in der Art – ich bin heute nicht sicher, ob es diese Kategorie in seinem Denken überhaupt gibt. Ich bin mir eigentlich über gar nichts mehr sicher, was ihn betrifft. Manchmal hasse ich ihn, so sehr, dass ich Angst habe, ich könnte körperliche Gewalt ausüben, sollte er mir noch einmal über den Weg laufen. Dann denke ich wieder, dass er meine Hilfe bräuchte. Das ist absurd, nach all dem, was passiert ist. Ich habe noch nie so eine krasse Persönlichkeit erlebt wie Julian Assange. So freigeistig. So energisch. So genial. So paranoid. So machtversessen. Größenwahnsinnig.
    Ich glaube sagen zu können, dass wir zusammen die beste Zeit unseres Lebens verbracht haben. Und ich weiß, das lässt sich nicht zurückholen. Nachdem nun ein paar Monate vergangen sind und sich die Gefühle beruhigt haben, denke ich: Das ist auch gut so. Aber ich kann unumwunden zugeben, dass ich die vergangenen Jahre gegen nichts in der Welt zurücktauschen würde. Gegen gar nichts. Ich fürchte sogar, dass ich alles noch einmal ganz genauso machen würde.
    Ich habe so verdammt viel erlebt! Ich habe in Abgründe geschaut und an den Hebeln der Macht gespielt. Ich habe verstanden, wie Korruption, Geldwäsche und politisches Strippenziehen funktionieren. Ich habe zum Telefonieren nur noch abhörsichere Cryptophone benutzt, die Welt bereist und wurde in Island von dankbaren Menschen auf offener Straße umarmt. Ich habe an einem Tag mit dem berühmten Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh Pizza gegessen, am nächsten von uns in den Abendnachrichten gehört und am dritten bei Ursula
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