Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
MONTECITO, KALIFORNIEN
    10. November, 14 Uhr 45
    Die Santa-Ana-Winde sind der Feind jedes Fotografen. Aber wie sollte man das einem egozentrischen Architekten beibringen, der fest glaubte, sein ganzes Renommee hinge davon ab, dass genau heute fünftausend Quadratmeter Bauland in Hanglage für die Nachwelt - und den Architectural Digest - im Bild festgehalten wurden. Alles Bemühen, ihm das zu erklären, wäre sinnlos gewesen, denn erreichte man, nachdem man mindestens zehnmal falsch abgebogen war, endlich den Treffpunkt, hatte man sich bereits verspätet, er war wütend, und der trockene Wind wirbelte schon solche Mengen Staub auf, dass man nur noch den Wunsch hatte, so schnell wie möglich zu verschwinden. Das ging aber nur, wenn man sich nicht erst lange mit ihm herumstritt, ob man die Aufnahmen überhaupt machen sollte. Also fotografierte man eben, ohne Rücksicht auf den Staub und die Steppenhexen, diese vom Wind getriebenen Knäuel aus vertrocknetem Unkraut und Pflanzenresten, die eigens von einem Team für Spezialeffekte importiert schienen, um eine kalifornische ParadeImmobilie mit Meeresblick im Wert von mehreren Millionen Dollar aussehen zu lassen wie Barstow im August. Und ohne Rücksicht darauf, dass einem die Staubkörner unter die Kontaktlinsen krochen, sich die Haut anfühlte wie aufgerautes Leder und das Haar wie verbranntes Heu. Wichtig war nur der Job; er war das Einzige, was zählte. Er finanzierte China Rivers Leben, und darum musste er getan werden.
    Aber Spaß hatte sie dabei nicht. Als sie die Arbeit beendet hatte, waren ihre Kleider und ihre Haut von einer dicken Staubschicht bedeckt, und sie wollte - abgesehen von einem großen Glas eiskalten Wassers und einem ausgedehnten Bad in einer kühlen Wanne - nur eines: weg von hier, runter von diesem Hügel und zum Strand. Darum sagte sie: »Das wär's dann. Die Abzüge können Sie sich übermorgen ansehen. Ein Uhr? In Ihrem Büro? Gut. Ich werde da sein.«
    Sie ging, ohne dem Mann die Chance zu einer Erwiderung zu geben. Seine Reaktion auf ihren abrupten Abgang war ihr ziemlich egal.
    In ihrem museumsreifen Plymouth fuhr sie den Hang wieder hinunter, auf einer gut geteerten, glatten Straße, denn Schlaglöcher wurden in Montecito nicht geduldet. Der Weg führte sie an den Häusern der Superreichen von Santa Barbara vorbei, die ihr behütetes Luxusleben hinter hohen Mauern mit elektronisch gesteuerten Toren führten, wo sie in Designerpools badeten und sich danach mit Frotteetüchern abtrockneten, die so weich und weiß waren wie der Schnee in Colorado. Sie bremste gelegentlich aus Rücksicht auf einen der mexikanischen Gärtner, die hinter diesen schützenden Mauern schufteten, oder auf ein paar halbwüchsige Mädchen, die in eng sitzenden Bluejeans und knappen T-Shirts hoch zu Ross dahergaloppierten. Das Haar dieser Mädchen schwang im Sonnenlicht. Alle trugen sie es lang und glatt und glänzend, wie von innen heraus erleuchtet. Sie hatten eine makellose Haut und perfekte Zähne. Und nicht eine von ihnen hatte auch nur ein Gramm unerwünschtes Fett auf dem Körper - ganz gleich, wo. Wie auch? Nicht ein Milligramm zu viel konnte sich länger halten als die Viertelstunde, die sie brauchten, um auf die Badezimmerwaage zu steigen, einen hysterischen Anfall zu bekommen und sich über die Toilette zu werfen.
    Einfach erbärmlich, dachte China, diese verwöhnte, magersüchtige Bande. Und was es für die kleinen Gänse noch schlimmer machte: Ihre Mütter sahen wahrscheinlich genauso aus, die perfekten Rollenvorbilder für ein Leben, das aus Fitnesswahn, Schönheitsoperationen, täglichen Massagen, wöchentlicher Maniküre und regelmäßigen Sitzungen beim Analytiker bestand. Es ging doch nichts über einen zahlungskräftigen Versorger, dem das Äußere seiner Frauen das Wichtigste war.
    Wenn China in Montecito zu tun hatte, war es jedes Mal das Gleiche, sie konnte nicht schnell genug wieder wegkommen. Heute erging es ihr nicht anders. Und der Wind und die Hitze dieses Tages trieben sie zusätzlich an, diesen Ort möglichst schnell hinter sich zu lassen. Sie drückten auf ihre Stimmung, und die war ohnehin schon übel genug. So etwas wie ein allgemeines Unbehagen belastete sie, seit heute Morgen der Wecker geklingelt hatte.
    Nur der Wecker. Nicht das Telefon. Das war das Problem. Gleich beim Erwachen hatte sie automatisch den Drei-Stunden-Sprung errechnet: zehn Uhr in Manhattan. Warum hatte er noch nicht angerufen? Und in den darauf folgenden Stunden bis zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher