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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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Prolog
    A lle sind gekommen. Der Ministerpräsident, der amerikanische Botschafter, der neue Vorstand, ausgewählte Journalisten, die gesamte Familie – und das alles mir zu Ehren. Natürlich auch meine aktuelle, sehr viel jüngere Ehefrau, die mit ihren achtundfünfzig Jahren versucht, wie achtundvierzig auszusehen, meine beiden Exehefrauen, die wie ich inzwischen alt sind, meine Kinder und viele Enkel und Urenkel. Ich sitze in meinem Rollstuhl und nicke allen freundlich zu, während ich an meine einzige wahre Liebe denke, an Irina, die ich vor mir sehe, als wäre es gestern gewesen, dass wir einander begegneten, und nicht bereits im Jahr 1937.
    In der Lautstärke, die die Leute alten Menschen gegenüber anschlagen, berichten sie mir, dass die Königin in Kürze kommen werde, um mir den Dannebrog-Orden zu verleihen. Ich habe ihn selbstverständlich schon früher einmal erhalten. Der jetzige wird mit jeder Menge Eichenlaub umkränzt sein. Gut möglich, dass es auch ein anderer Orden ist. Ich habe nicht richtig zugehört. Ich habe genickt und meiner Dankbarkeit Ausdruck verliehen, dass Ihre Majestät persönlich erscheinen wird. Etwas ganz Besonderes. Außerhalb des Protokolls. Aufgrund meiner besonderen gesellschaftlichen Stellung. Sie wird hier in meinem großen, duftenden Sommergarten vorbeischauen und meinem weltberühmten Chor lauschen, dem Mads Meyer Chor , den ich mein halbes Leben lang finanziert habe, und vielleicht überrascht sein, dass er drei alte Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg und einen Tango aus Buenos Aires singen wird. Ein Wunsch, mit dem ich denDirigenten in Aufregung versetzt habe, denn wo sollte er bloß die Noten herbekommen, und warum das Ganze? Aber da ich die Musik bezahle, kann ich sie auch bestimmen. Ich habe selbst viele, viele Jahre im Chor gesungen, aber als ich kein Vertrauen mehr in meine Stimme hatte, habe ich aufgehört.
    Ich bin sehr alt und möchte am liebsten sterben, aber stattdessen sitze ich hier und nicke wohlwollend und höre mir die Reden an über meinen großen Einsatz gegen die Deutschen und für die dänische Wirtschaft und unser Land. Sie wissen nicht, dass all dies auf einem Verbrechen gründet und dass ich schon immer vorhatte, die wahre Geschichte zu erzählen, bevor ich sterbe.
    Und jetzt ist es also so weit.
    In Argentinien, Spanien und in Stalins Russland habe ich Menschen getötet. In Argentinien, um meine Haut zu retten, als mein Schwanz mich mal wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte. In Spanien war es wohl vor allem um meines persönlichen Vorteils willen, und in Russland ging es um Irina. Doch dafür zeichnet man mich nicht aus. Den Orden mit Schleife und Sternchen darauf bekomme ich für mein Wirken während des Krieges, und das, was sie für Mut halten, war in Wirklichkeit die Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens. Im Einsatz für unser Vaterland habe ich eine große Zahl dänischer Landesverräter und zwei Deutsche umgebracht. Ich war der kaltblütigste Denunziantenliquidator in den Reihen der Widerstandsbewegung. Sie nannten mich den »Mann ohne Furcht«. Und tatsächlich hätte es mir nichts ausgemacht zu sterben, weil der Gedanke an meinen Bruder mich quälte, so wie er mich noch heute in meinen Träumen quält. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, weil ich im Jenseits mit Irina wiedervereint sein würde wie die Liebenden von Teruel.
    Meine Verdienste während des Krieges machen mich zu einem Helden, weil Mord eben doch nicht Mord ist,auch wenn die Bibel und die Schule uns das weismachen wollen.
    Alle, die ich kenne, sind heute an meiner Seite, und dennoch vermisse ich besonders meinen Bruder, der beseelt und klug war und an das Gute im Menschen glaubte, und fast genauso sehr vermisse ich meine Schwester. Ihr wurde vor vielen Jahren ein gnädiger Tod zuteil, als ihr Herz plötzlich aufhörte zu schlagen. Und dann ist da noch die unmögliche, verzehrende Sehnsucht nach Irina.
    Mein Bruder war hübsch und zart und rechtschaffen, er war Künstler und ein Idealist, der an eine Sache glaubte. Er war ein Mensch ohne Falsch – oder wurde er vielleicht einfach nicht alt genug, um es bis dahin zu bringen? Er war davon überzeugt, etwas bewirken zu können. Er war bereit, für das Gute und das, was er für die Wahrheit hielt, sowohl zu töten als auch zu sterben.
    Sein Schicksal ist das Schicksal des 20. Jahrhunderts. Während dieses Jahrhunderts wuchs der Blutdurst unter dem Deckmantel der vorpreschenden Ideologien und enthüllte die wahre Natur des
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