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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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passiert?“, fragte Beata, nach wie vor bewegt von der Traurigkeit dieser Frau.
    „Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Irgendwann einmal, vor langer Zeit, nachdem ihre beiden Mädchen schon auf der Welt waren, gab sie sich auf. Sie verlor ihre Lebendigkeit, ihre Lebensfreude und begann zu fliehen. Vielleicht an einen Ort wie diesen!“, fuhr die Frau fort und blickte Beata eindringlich an, als wollten ihre Augen mehr sagen, als ihr Mund zu sprechen wagte.
    „Einen Ort wie diesen?“, fragte Beata und sah wieder aus dem Augenwinkel, wie sich der Vorhang am Fenster über der Veranda bewegte.
    „Und wie meinen Sie das, sie ist geflohen? Haben Sie keinen Kontakt mehr zu ihr?“, fragte Beata, bemüht, der Frau gedanklich zu folgen.
    „Wir alle haben ein kleines Päckchen in unserem Leben zu tragen, meine Liebe. Mal ist es schwerer, mal ist es leichter. Und manch einer schafft es nie, es ganz abzulegen. So wie meine Tochter. Immer, wenn es ihr wieder zu schwer wurde, floh sie durch Betäubung, bis sie gar nichts mehr spürte. Und sie niemand mehr erreichte. Sie war an einem anderen Ort, an dem ihr Päckchen nicht mehr so schwer war. Und das immer öfter.“
    Sie blickte Beata erneut eindringlich an.
    „Meine Liebe, es gibt viele Wege, die einen hierher führen können. Manch einer kommt über den Ihren, Beata, manch einer über meinen. Oder eben über den meiner Tochter.“
    Die Frau bekam feuchte Augen. Schließlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen und es kullerten ihr Tränen über die faltigen Wangen.
    Beata war sich zwar nicht ganz sicher, worauf diese traurige Frau letztendlich hinaus wollte, glaubte es aber zu ahnen. Sie konnte sich vorstellen, was sie erlebt haben musste, und drückte nun im Gegenzug die Hand der Frau etwas fester.
    Nach nur ein paar Minuten waren die Tränen der Alten fast wieder getrocknet.
    Schon etwas ruhiger, sagte sie schließlich:
    „Ich bin hier, da ich glaubte, meiner Tochter folgen zu müssen. Um nachvollziehen zu können, wonach sie sich so zu sehnen schien, dass es mehr Wert hatte als ihr eigenes Leben. Doch Sie, meine Liebe, sollten wirklich nicht hier sein. Ich bin schon alt und habe meine Entscheidungen getroffen, aber Sie sollten Ihrer Mutter niemals diesen Kummer bereiten. Es ist einfach wider die Natur, dass Mütter ihre Kinder überleben!“
    Beata sagte nichts dazu. Sie schwieg. Sie beide schwiegen für eine ganze Weile, ehe sie ebenso wortlos wieder zurück zum Haus gingen. Einfach nur nebeneinander.
    ***

Der Spaziergang bewegte Beata selbst dann noch, als sie bereits in ihrem Bett lag.
    Sie hatte sich lange niemandem mehr so nah gefühlt, ohne damit an ihre körperliche Entfernung zu denken.
    Als hätten sie beide für einen Moment denselben Weg gehabt, einen Spaziergang, den sie wahrscheinlich nicht so schnell vergessen würden.
    Menschen begegnen sich, tagtäglich. Sie treten ins Leben und verlassen es wieder. Aber nur wenige hinterlassen etwas.
    Diese Dame hatte bei Beata einen bleibenden Eindruck hinterlassen und das taten gewiss nicht viele. Schließlich wurde nicht jede ihrer Begegnungen wichtig oder intensiv. Manche wurden es nie.
    So empfand Beata auch nur eine Bekanntschaft in ihrem Leben als wirklich wichtig.
    Sie und ihre Freundin, die die letzten zwanzig Jahre in Amerika gelebt hatte, kannten sich noch aus der Schulzeit. Auch wenn sie sich durch die Distanz nicht oft sahen, telefonierten sie doch regelmäßig.
    Der Kontakt brach bis zum heutigen Tage nicht ab.
    Beata erinnerte sich immer gern daran, wie sie beide in einer kleinen Disco als junge Studentinnen zwei amerikanische Soldaten kennengelernt hatten, die dort in der Nähe stationiert waren.
    Beata und ihre Freundin malten sich aus, wie es sein würde, wenn sie nach Amerika gingen. Dort lebten.
    Beata hätte die letzten Semester ihres Studiums in Amerika beenden können.
    Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – sie wollten es erobern.
    Zwei Jahre lebten Beata und ihr Soldat damals bereits als Paar in Frankfurt, zusammen in ihrer kleinen Studentenbude. Sie lagen manchmal das ganze Wochenende nur im Bett. Lasen sich gegenseitig aus alten Büchern vor. Hörten Musik. Liebten sich. Keine Minute wollten sie einander verpassen. Alles schien perfekt.
    Ihre Freundin heiratete recht bald - ohne ihre Eltern, nur mit Beata als Trauzeugin.
    Beata lächelte bei dem Gedanken an diesen verrückten Tag, diese verrückte Zeit.
    Gedanklich endete diese Geschichte immer wieder hier, an dieser Stelle.
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