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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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bei dem Anblick der nackten Riesen, die schutzlos den durchdringenden Blicken der anderen ausgeliefert waren.
    Sie konnte es dem Ahorn aber gut nachempfinden, denn ihre dicke Haut, die sie sich bislang zuzulegen versucht hatte, funktionierte im Moment auch nicht.
    Silvester hatte ihr versichert, dass ein solches Gefühl an einem fremden Ort, unter fremden Menschen, völlig normal sei.
    „Schließlich ist hier, auf diesem besonderen Anwesen, auch alles ein wenig anders, Beata“, beruhigte er sie sanft. „Ihr befindet euch in einer anderen Welt. Und das ist auch gut so. Denn nur, wenn man etwas Altes hinter sich gelassen hat, kann sich auch etwas Neues bilden.“
    Etwas Neues bilden? Davon glaubte Beata sich weit entfernt. Sie fühlte sich so unterfordert, dass ihr Energiezeiger zwischenzeitlich den Nullpunkt erreicht hatte und sie sich fast wie tot fühlte.
    In einem Punkt stimmte sie Silvester allerdings zu – dieses Anwesen und seine Bewohner vermittelten tatsächlich den Eindruck, nicht ganz normal zu sein.
    Doch wenn sie ehrlich war, fühlte sich auch Beata nicht mehr ganz normal.
    Sie spürte, dass ihr Elan vor wenigen Wochen wie ein Flugzeug nach über vierzig Jahren konstanter Flughöhe notgelandet war. Und jetzt nicht mehr genug Schwung und Antrieb hatte, um wieder auf die alte Flughöhe zugelangen. Eine wahrlich neue Erfahrung für sie, wo sie doch immer glaubte, so etwas sei durch keinen Ort der Welt zu verursachen.
    Silvester hatte versucht, Beata davon zu überzeugen, dass man manchmal von einem Extrem ins andere kommen müsse, um dann die gesunde Mitte zu finden.
    Das Einzige, das Beata indes gefunden hatte, war das Schreiben der Grußkarten, ebenso wie ihre Ruhe beim Essen.
    Die Verirrung der Dürren an ihren Tisch anfangs blieb einmalig, denn es versuchte nun niemand mehr, an sie heranzutreten. Manchmal glaubte Beata fast, dass die anderen sie gar nicht wahrnahmen, da nicht einmal aufgeblickt wurde, wenn sie den Saal betrat.
    Ohne dies jedoch weiter zu hinterfragen, genoss Beata es einfach. Schließlich war es genau das, was sie wollte: für sich sein. Bis auf eine Ausnahme, als sie nach dem Essen wieder ihre kleine Runde um den See drehte. Dort war ihr die traurige Frau mit den grauen Zöpfen über den Weg gelaufen.
    „Laufen Sie ein Stück mit mir!“, wurde sie unerwartet durch die Alte ermuntert. Und Beata lief tatsächlich ein paar Schritte mit. Sie gingen eine ganze Weile in der Dämmerung, vorerst ohne ein Wort zu sagen.
    „Sind Sie nicht ein wenig zu jung, um an einem Ort wie diesem Tag für Tag Grußkarten zu schreiben, meine Liebe?“, fragte die Frau schließlich.
    „Sie sollten hier nicht sein. Sie sollten zu Hause sein, bei Ihrem Mann und Ihren Kindern und Ihr Leben genießen!“, fuhr sie fort, mit traurigem Klang in der Stimme und in die Ferne gerichtetem Blick.
    „Schwächeanfälle sind in meiner Position und in meinem Alter nichts Seltenes mehr“, antwortete Beata ein wenig eingeschnappt.
    „In Ihrem Alter sollte man derartige Probleme nicht haben. Das hätte Ihnen Ihre Mutter schon früher sagen sollen. Dabei hat sie das auch sicherlich immer. Immer und immer wieder hat sie das. Sie baute Sie bestimmt auf, wenn Sie niedergeschlagen waren und dem Leben nicht standhalten konnten – nahm ihr Mädchen zu sich und tat alles, damit es Ihnen einfach etwas besser ging! Ganz sicher tat sie das. Genau wie ich für meine Tochter, ganz sicher, ganz sicher!“
    Die Dame wirkte verwirrt, als wisse sie nicht genau, von wem sie da spreche.
    „Sie sind ja ganz durcheinander“, entschärfte Beata die Situation. „Vielleicht möchten Sie sich einen Moment setzen?“
    Sie deutete auf die Hollywoodschaukel, die nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war. Die Dame nickte.
    In diesem Augenblick bewegte sich ein Vorhang im ersten Stock über der Veranda.
    „Ob das Sylvester ist?“, fragte sich Beata und kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Doch die Dunkelheit ließ sie niemanden erkennen.
    Sie hatten sich kaum gesetzt, da griff die Frau beherzt nach Beatas Hand und begann davon zu erzählen, dass sie vor Kurzem ihre Tochter verloren habe. Verloren andie Traurigkeit, die seit Jahren tief in ihr gesteckt habe.
    „Meine Tochter war ein hübsches Mädchen und wusste mit ihren Reizen zu spielen. Es fehlte ihr an nichts, weder an Verehrern noch an Aufmerksamkeit. Sie war ungefähr in Ihrem Alter.“ Die Frau drückte Beatas Hand jetzt etwas fester.
    „Was ist mit ihr
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