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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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Kochen“, rief eine Beobachterin, vermutlich aufgrund der doch unübersehbaren Körperfülle. „Dann ist sie Genießerin – vielleicht baut sie selbst das Gemüse an.“
    „Sie könnte in einem netten Reihenhaus in der Vorstadt wohnen, da wäre auch Platz für einen Gemüsegarten.“
    „Sie ist verheiratet, da sie einen Ehering am Finger trägt“, rief der Ringbeobachter, der sich bereits zu Beata geäußert hatte.
    „Sie hat Kinder und wird viel draußen sein in der Natur – vielleicht, um Beeren und Kräuter zu sammeln.“
    Die Kursteilnehmer lachten kurz auf.
    „Sie wird sich dann auch auskennen mit Kräutern und Gewürzen – vielleicht ist es ihre Leidenschaft, sie auf ihre Wirkung und Heilkraft zu untersuchen.“
    „Homöopathie ist ihre Leidenschaft.“
    „Und sie glaubt an die Kraft des Lachens und lacht sehr gerne und viel“, rief die Letzte schließlich, da die Teilnehmerin noch immer kicherte.
    Bis alle einmal dran gewesen waren, verging über eine Stunde und Beata konnte sich bis zuletzt nicht mit dem Kursthema und seinen Teilnehmern identifizieren.
    Wie auch? Kein anderer wurde so leidenschaftslos beschrieben wie sie.
    In Gedanken versunken, schenkte sie dem Geschehen um sich herum zu diesem Zeitpunkt kaum noch Aufmerksamkeit.
    „Auf dem Papier vor euch habt ihr nun die Gelegenheit, aufzuschreiben, was ihr eurer Meinung nach leidenschaftlich gerne macht“, fuhr Silvester kurze Zeitspäter fort. „Was ist eure Leidenschaft? Ist sie in eurem Beruf wiederzufinden? Ich bin mir sicher, dass es das eine oder andere überraschende Ergebnis geben wird.“
    Fünf Zeilen, die Beata mit Leidenschaft füllen musste.
    Sie begann mit „Laufen“ und schrieb es in Zeile eins.
    Schließlich tat sie es regelmäßig, dachte sie sich.
    Einverstanden mit ihrer ersten Zeile, konzentrierte sie sich nun auf die zweite.
    Das Geräusch von kratzendem Kugelschreiber auf dünnem Block ließ Beata, auch ohne aufzublicken, wissen, dass alles eifrig schrieb. Doch Beatas Kugelschreiber kratzte nicht. Er war nämlich nicht im Einsatz.
    Beata starrte noch immer auf die zweite Zeile ihres Zettels, ohne eine Idee zu haben, was leidenschaftlich in ihrem Leben war.
    Als sich auch nach fünf Minuten keine Leidenschaft in ihr auftun lassen wollte, siegte der Frust schließlich über ihren Geist und ihre Gedanken drifteten ermüdet ab. Wie so oft in den letzten Wochen.
    Sie lehnte sich zurück und ließ es schließlich zu.
    Das war auch für Silvester nicht schwer zu erkennen, denn sie hatte dabei Arme und Beine verschränkt.
    Wie in einem kleinen Tagtraum erinnerte sich Beata, wie sie als kleines Mädchen auf eine ähnliche Art und Weise ihre Wunschzettel zu Weihnachten geschrieben hatte.
    Sie schrieb in die linke Spalte, was sie sich wünschte, und in die rechte, wie sehr. Ihren größten Wunsch kennzeichnete sie immer mit einem kleinen Stern.
    Es war dann meist das am hübschesten eingepackte Geschenk unter dem Weihnachtsbaum – ein kleines, besonderes Etwas, das nur von ihrem Vater war.
    Auf ihn konnte sie sich immer verlassen.
    Als Kind hatte sie natürlich noch viel Leidenschaft verspürt und somit viele Wünsche gehabt. Da benötigte auch sie lange Tabellen, um sie alle niederzuschreiben. Aber heute?
    Den Tagtraum wieder verlassend, beugte sich Beata erneut über ihren Block. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte schließlich noch ein paar Zeilen zu füllen.
    Nach einer Weile schrieb sie dann „Strukturieren“.
    Struktur war nicht nur eine Qualität, die sie besaß, sondern fast eine Leidenschaft. Aus anfänglich strukturiert gestalteten Wunschzetteln wurde ein strukturiert gestaltetes Leben.
    Als sie damals ihr Elternhaus verließ, um in der Großstadt zu studieren, erfolgte alles nach einem klaren Stufenplan, der bereits Jahre zuvor aufgestellt worden war. Er zeigte nicht nur den genauen Auszugszeitpunkt auf, sondern legte gleichsam bereits vor Studienbeginn fest, wann sie ihre Diplomarbeit abgeben würde und wie viele Auslandssemester wann und wo Pflicht waren. Sie hatte sich schließlich informiert und wollte vorbereitet sein.
    Und das war lediglich der grobe Plan.
    Der feine Plan strukturierte alles Weitere innerhalb des groben Plans, was fast ihren kompletten Tagesablauf betraf.
    Die Studientipps zur Optimierung strukturierten Handelns brachten Beata da auch keine neuen Einsichten. Sie beherrschte es bereits. Und hatte es bis zum heutigen Tag nicht mehr abgelegt.
    In Zeile drei stand noch immer nichts
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