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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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Von der inneren Unruhe förmlich aus dem Tiefschlaf vertrieben und von unterschwelligen Magenkrämpfen gänzlich zum Erwachen gezwungen, war es wieder einmal eine Nacht, wie Beata sie in den vergangenen Jahren des Öfteren erlebt hatte.
    Die kalten Schweißperlen auf der Stirn trockneten schnell und spätestens unter der Dusche war alles vergessen. Fast alles.
    Beata war in Gedanken bei der Unternehmensanalyse, die sie heute am Spätnachmittag dem neuen Kunden vortragen würde.
    Sie hatte dies, ihrem Befinden nach, bereits die ganze Nacht getan. Stärken und Schwächen voneinander abgrenzen und hieraus Bedrohungen und Chancen aufzeigen – das war doch wie im wahren Leben, dachte sie sich. Erst später, bei einer Tasse grünem Tee und einer Zigarette, fiel ihr wieder ein, unter welchen Voraussetzungen sie heute früh aufgewacht war.
    Sie war versucht, heute Morgen zwei Koffeintabletten einzunehmen.
    Manchmal reichte ihr morgens auch schon eine.
    Meistens kam es sonntags vor, wenn sie ihren freien Tag hatte, oder auch mal wochentags, wenn sie erst später los musste, weil es am Vorabend ein langes Meeting bis spät in die Nacht gegeben hatte.
    Doch heute würde sie zwei Tabletten nehmen.
    Schon als sie Studentin war, hatten ihr die kleinen Wachmacher dabei geholfen, nächtelang hindurch zu lernen. Sie wurden so etwas wie ihr tägliches Brot, dennKaffee konnte sie schon ab dem zweiten Semester nicht mehr trinken, so sehr schmerzte ihr sensibler Stressmagen. Chronische Gastritis – damit sollte sie nun für den Rest ihres Lebens klarkommen.
    Kurze Zeit später, in der U-Bahn Richtung Frankfurter Bankenviertel und bereits fertig mit ihrer Tageszeitung, die über neueste Kreditklemmen mittelständischer Unternehmen berichtete, ließ Beata erstmals für diesen Morgen ihre Gedanken schweifen.
    Wie alle so dasaßen, im überfüllten Bahnabteil.
    Die einen, die gerade von einer durchzechten Nacht kamen, saßen unbeschwert in ihren Sitzen und lebten augenscheinlich in den Tag hinein. Andere, die heute früh ihre Arbeitskleidung angezogen hatten, schienen damit auch mental in ihre berufliche Rolle geschlüpft zu sein.
    So sah der Gesichtsausdruck der uniformierten Flugsicherheitsmitarbeiterin von Station zu Station auch immer mehr aus wie der einer strengen Sicherheitskraft.
    Oder der junge Kerl zwei Reihen weiter.
    Er saß mit viel zu großem Jackett und schlecht gebundener Krawatte da und schien wohl noch in das Berufsleben an sich hineinwachsen zu müssen.
    Was die Auswahl ihres eigenen Kostüms wohl über sie aussagen würde, fragte sich Beata. Was wäre, wenn sie sich heute früh für den Hosenanzug entschieden hätte und nicht für das Kostüm?
    Doch wie sah schon eine ledige Mittvierziger-Managerin eines internationalen Unternehmens aus?
    Wie sahen Manager für gewöhnlich aus?
    Nachdem sie unauffällig an sich heruntergeblickt und sich vergewissert hatte, dass sie im Gegensatz zu manchem Schlipsträger im Bahnabteil um sie herum auf ihr Äußeres stolz sein konnte, verwarf sie ihre kindische Gedankenexkursion wieder und konzentrierte sich auf das Essenzielle: ihren Job.
    ***

Im Büro angekommen, stürmte der neue Sekretär auch schon mit einem Stapel Unterlagen und einer Tasse frischen grünen Tees auf sie zu.
    Er berichtete hastig von einem neuen Gedanken, der ihm bei seiner letzten Nachtschicht zur anstehenden Unternehmensanalyse gekommen war. Beata winkte nur ab, ohne ihn aussprechen zu lassen, schloss die Tür hinter sich und zündete sich eine Zigarette an.
    Manches im Leben würde sich nie ändern, dachte sie.
    Sie mochte keine Veränderungen. Sie waren nur schwer einschätzbar, kosteten Kraft und Vertrauen; und das hatte sie neben ihrem zeitaufwändigen Job nun wirklich nicht.
    Auch für den neuen Sekretär hatte sie nichts übrig. Und eigentlich hatte sie für überhaupt niemanden etwas übrig.
    Sie widmete sich ihrer Unternehmensanalyse.
    Gegen Mittag, nachdem sie es heute, wie so oft, nicht geschafft hatte, eine Mittagspause zu nehmen, griff sie erneut in ihre Tablettendose und fischte mit zwei Fingern eine Koffeintablette heraus. Die Tablettendose bewahrte sie in ihrer Schreibtischschublade auf.
    Eigentlich war es keine Tablettendose, wie man sie für gewöhnlich kannte, sondern ein schmales, verchromtes Brillenetui aus einem billigen Drogeriemarkt. In diesem Etui bewahrte sie ihre Tabletten seit Jahren auf.
    Nie hätte sie vor Kollegen oder gar vor ihrem Vorgesetzten zugegeben, dass sie aufputschende
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