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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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werden.
    Im heutigen Zeitalter der Wissenschaft war Glaube etwas für alte Menschen, nicht für junge, die mit Technik und Wissenschaft groß wurden.
    Und Beata fühlte sich alles andere als alt.
    Da fielen ihr wieder die Gräber ihrer Väter und das Geburtsrecht ihrer Kinder ein.
    Etwas Komischeres hatte sie lange nicht gehört, sodass sie doch tatsächlich ein wenig schmunzeln musste. Und hätte vielleicht sogar kurz laut aufgelacht, wäre sie allein gewesen.
    Die Asche ihrer Urgroßväter lag in ganz Russland verstreut und ihr Zuhause war schon immer dort, wo sie lebte und nirgendwo anders. Und sie lebte in Deutschland und nicht in Russland.
    Was scherte sie also die Asche in Russland?
    Beata verweilte einen Moment bei dem Gedanken an die alte Heimat ihres Vaters und es stieg ganz vage einevertraute Erinnerung in ihr hoch.
    Sie kannte Russland nur aus früheren Urlauben und sie erinnerte sich, wie ihr Großvater ihr als kleines Mädchen immer erzählt hatte, wie er und seine Familie 1941 gewaltsam aus ihrem Lebensraum fortgerissen wurden und man ihnen damit einen ungeheuren Stoß versetzt habe. Es sei eine schlimme Zeit gewesen.
    Sie hatten nicht nur ihr schönes Haus in Twer an der Wolga verloren, sondern auch ihr gewohntes Umfeld und ihre Freunde.
    Durch politische Intrigen hatten sie kein Vertrauen mehr in die Menschheit, die sie um die Freiheit auf Meinungs- und Mitspracherecht gebracht hatten.
    Ihr Großvater hatte sie damals auf seinen Schoß gezogen und gesagt: „Weißt du, als Oma und ich gingen, konnten wir nur mitnehmen, was unsere Hände tragen konnten.“
    Einfach irgendwo herausgerissen werden, dachte Beata. Ohne eigene Entscheidungsfreiheit. Ohne jegliches Mitspracherecht. Sie mussten neu, bei null und mit nichts starten, als Hilfsarbeiter, ohne Würde.
    Damals hatte Beata nicht nachempfinden können, was ihr Großvater damit gemeint hatte. Doch jetzt, im Nachhinein, dämmerte es ihr.
    Schlagartig bekam sie Magenschmerzen.
    Natürlich, ihre Gastritis sollte sie zurück auf den Boden der Tatsachen holen. Zurück in den kleinen Raum hinter dem Ladengeschäft, in dem sie Grußkarten schrieb.
    Immer wenn sie mit großen Gefühlen konfrontiert wurde, machte sich die Gastritis bemerkbar. Ein Grund, weshalb sie sich die emotionalen und körperlichen Strapazen einer Schwangerschaft bisher erspart hatte.
    So viel zu dem von der Dürren geforderten Geburtsrecht ihrer Kinder. Sie hatte schließlich auch Rechte.
    Beata strich sich durch das Haar, das sie nur locker mit einer Spange hochgesteckt hatte, zog den Kragen ihrer Bluse zurecht und widmete sich schließlich wieder ihrer Grußkarte. Doch an diesem Nachmittag konnten nicht einmal Raumgestaltung oder schöne Klänge ausgleichen, was sie innerlich bewegt hatte.
    Am Abend ging Beata sogar eine Runde laufen, um den Kopf wieder frei zu bekommen und das absurde Zeug, das darin herumschwirrte, endlich loszuwerden.
    ***

Als sie in ihrem Bett lag, wollten ihre Gedanken sie nicht in den Schlaf entlassen.
    Sie knipste ihre Nachttischlampe wieder an, griff nach den Zigaretten, die neben ihr auf dem Nachttisch lagen, und zündete sich eine an.
    „Mutter Erde und der Himmel“, stammelte sie vor sich hin und zog an ihrer Zigarette.
    Sie war hellwach, lag auf dem Rücken und hatte den Blick auf die mit Stuck verkleidete Decke gerichtet und ließ ihren Gedanken wieder einmal freien Lauf.
    Eigentlich fiel ihr zu dem Begriff „Mutter Erde“ immer nur aus der Schulzeit ein, dass dieser auf die mittlere Altsteinzeit zurückgeht.
    Wenn sie aber genauer darüber nachdachte, war Mutter Erde natürlich die Natur. Und ohne Natur kein Leben, ohne Leben keine Menschen.
    Und auch keine Beata.
    Sie nahm erneut einen Zug von ihrer Zigarette.
    Sie war nicht die Erste, die sich über die Natur Gedanken machte. In ihrem letzten Urlaub hatte sie ein Buch über Naturphilosophen gelesen, die sich schon lange Zeit vor ihr für die Naturprozesse interessierten und in der Natur allen Ursprung sahen. Denn diese Prozesse waren da, sie waren regelmäßig und zuverlässig, und man konnte sie mit eigenen Augen sehen.
    Eigentlich sehr sympathische Eigenschaften, selbst für einen Betriebswirt, gestand sich Beata ein, nur würde sie trotzdem nicht mehr Mutter Erde zur Natur sagen, wie beispielsweise noch die Indianer.
    Erst kürzlich hatte sie einen Bericht gesehen, in dem sich ein alter Stammeshäuptling darüber ausließ, dass die Gier des weißen Mannes die Mutter Erde noch verschlingen
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