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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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gemütlich eingerichteten Raum, der direkt hinter dem kleinen Ladengeschäft am anderen Ende des Anwesens lag.
    Eine kleine Gruppe von älteren Frauen saß bei gut riechendem Tee und Gebäck an einem langen Holztisch und bastelte Grußkarten. Eine von ihnen fiel Beata beim Betreten des Raums besonders auf. Sie war sehr adrett gekleidet und Beata schätzte sie auf Ende sechzig. Ihr Haar war natürlich ergraut, wie Beata es bislang selten gesehen hatte. Sie trug es zu langen Zöpfen geflochten, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte.
    Doch es waren nicht die Haare gewesen, die Beata aufgefallen waren, sondern ihre unübersehbare Traurigkeit – als husche ihr der Kummer förmlich über das Gesicht.
    Natürlich waren Beata schon häufig Menschen begegnet, die traurig waren.
    Sie sah sie regelmäßig. Überall.
    Im privaten Umfeld oder auch in der U-Bahn.
    Sie waren nicht zu übersehen, auch wenn sie ihre Traurigkeit für gewöhnlich kaschierten – eine Mentalität, die Beata insgeheim auch sehr schätzte. Schließlich wollte sie nicht hören, dass der Mann weggelaufen war, das Bankkonto bedrückend rote Zahlen schrieb und die Kinder einem auf der Nase herumtanzten. Zu sehr ähnelten ihre Sorgen und Ängste denen der anderen, als dass sie ihnen gegenüberstehen wollte.
    Beata glaubte nämlich, dass, selbst wenn sie ihren Ängsten unterschiedliche Namen gaben, sie sich im Kern doch alle gleich anfühlten. Also fragte auch keinerdanach, abgesehen von sensationsgierigen Klatschweibern, die für gewöhnlich in Büros in der Kaffeeküche anzutreffen waren. Die würden jedoch nicht voller Anteilnahme zuhören, sondern sich nur am Leid der anderen weiden.
    Die Frauen dort, in dieser kleinen Runde, schienen indes keine Klatschweiber zu sein. Sie waren in ihre Arbeiten vertieft und lauschten einer klangvollen, raumfüllenden Musik, ohne auch nur aufzusehen.
    Beata kam sich beim Anblick dieser geschlossenen Frauenrunde wie ein störender Fremdkörper vor und suchte sich erst einmal am leeren Teil des Tischs einen Platz.
    Wie selbstverständlich reichte man ihr ein paar unbeschriebene Grußkarten, einen Füller und ein kleines Büchlein mit Sprüchen und Versen internationaler Dichter.
    Aus Anstand und um die Frauen in ihrer Tätigkeit nicht zu beleidigen, verzichtete Beata besser einmal auf einen Kommentar zu der ihr zugeteilten Aufgabe. Auch wenn er ihr auf der Zunge brannte.
    „Arbeitsteilung“, sagte sie sich leise, „fördert den Teamgeist.“
    Sie nickte anstandshalber dankend, um nicht weiter aufzufallen. Nicht jeder könnte einen so guten Job ausüben wie sie, dachte sich Beata. Wer sonst sollte die weniger guten Jobs in der Gesellschaft verrichten?
    Sie wusste ihre Verantwortung und Vielfalt im Beruf daher plötzlich sehr zu schätzen und es fiel ihr als gutesBeispiel die alte Dame aus dem Einkaufszentrum ein.
    Sie war altmodisch, aber elegant gekleidet, als ob sie schon bessere Tage gesehen hätte. Um ihren Mund spielte meist ein zufriedenes Lächeln und Lachfalten zeichneten ihr Gesicht. Sie wirkte zufrieden in sich ruhend und putzte mit einer Leidenschaft die Damentoiletten, dass man fast annehmen konnte, es bereite ihr Freude.
    Als sei es für sie mehr als nur Toilettenputzen.
    Unvorstellbar für Beata.
    Beata hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da stieß sie in dem kleinen Buch, in dem sie schon zu blättern begonnen hatte, auf einen Spruch, der passte:
    „Dein Beruf ist, was dich ruft!“
    Clemens Brentano (1778-1842)
    Wer weiß, welchen Umständen die alte Dame aus dem Einkaufszentrum ihre jetzige Tätigkeit zu verdanken hatte, dachte sie sich.
    Es musste also auch in Ordnung sein, wenn sie als Akademikerin mal einen Nachmittag lang Grußkarten schrieb – eine Annahme, die sie zumindest kurzzeitig ein wenig die eigenen Vorurteile vergessen ließ.
    Beata war nach kürzester Zeit unerwartet vertieft in das Schreiben. Das ganze Ambiente in dem Raum, so vollkommen und sicher, zeigte doch eine überraschende Wirkung auf sie. Sie wollte es auch nicht überbewerten. Schließlich hatte sie oft erlebt, wie Räume eine solche Wirkung verursachten.
    In großen Kaufhäusern zum Beispiel. „Bewusste Gestaltung und gezielte Farbwahl“ nannten das ihre Kollegen. Sie arbeitete eng mit der Marketingabteilung zusammen, sodass sie mit solchen Methoden bestens vertraut war.
    Was sie an diesem Nachmittag jedoch nicht wahrnahm, war die Zeit, die in dem kleinen Raum hinter dem Ladengeschäft verging: unbemerkt und wie im
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