Wachkoma
geschrieben.
Das Kratzen der Kugelschreiber im Raum wurde leiser, da einige bereits fertig waren.
Beata runzelte sichtlich angestrengt die Stirn und blickte noch immer auf die letzten, leeren Zeilen.
Silvester stand nur ein paar Meter entfernt von ihr.
Er lehnte leger am Fensterbrett und beobachtete seine Kursteilnehmer. Beobachtete Beata.
Als ihre Blicke sich kurz trafen, fühlte sich Beata noch mehr gehetzt. Sie war wohl als Einzige noch nicht fertig?
Leidenschaft – was verdammt würde sie als ihre Leidenschaft bezeichnen?
Silvester erklärte bereits den nächsten Schritt. Er bat darum, dass die Teilnehmer sich nun für einen ihrer fünf Begriffe entscheiden. Es werde jedem selbst klar werden, welchen Begriff er auswählen sollte.
„Spielt dieser Begriff eine Rolle im Beruf?“, fragte Silvester schmunzelnd, als kenne er die Antwort des einen oder anderen bereits.
Beata hatte Zeile drei, vier und fünf nicht ausgefüllt. Ihre Wortwahl war daher schnell getroffen.
Die Teilnehmer trugen kurz darauf ihre Ergebnisse vor.
Es gab viele Übereinstimmungen zwischen den Einschätzungen durch die Gruppe und den tatsächlichenLeidenschaften – so war die Kräuterfrau auch tatsächlich Köchin.
„Ich strukturiere gerne“, sagte Beata, die als Managerin in ihrem Beruf sicherlich tagtäglich mit Strukturen zu tun hatte und ihr Kursziel damit erreicht haben müsste – nur wusste sie nicht, ob man Struktur überhaupt als Leidenschaft bezeichnen konnte. Und empfand die Zeit in diesem Kurs als verschwendet.
***
Nach dem Workshop lief Beata nach draußen, um durchzuatmen. Sie zündete sich hastig eine Zigarette an und zog an ihr, als sauge sie durstig an einem Strohhalm.
Es war kalt draußen und sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, um sich warm zu halten.
Was für ein Tag, dachte sie sich – und obwohl er so gut wie vorüber war, wollte Beata noch nicht reingehen, zu Abend essen und hierbei unausweichlich den lauten Gesprächen der Nachbartische ausgeliefert sein. So schlenderte sie stattdessen ein wenig Richtung Hollywoodschaukel. Dort angekommen, setzte sie sich für einen Moment.
Sie hatte kaum ihre Zigarette weggeworfen, da hörte sie auch schon etwas leise im Gras rascheln. Sie schaute um sich, um herauszufinden, woher das Rascheln kam. Doch sie konnte nichts Ungewöhnliches sehen.
Einen kurzen Augenblick später raschelte es wieder.
Beata blickte zum Haus zurück.
Auch dort war nichts zu sehen. Der Vorhang über der Veranda stand an diesem Abend ganz still.
Sie lehnte sich wieder entspannt zurück. Ihre Augen waren noch immer weit geöffnet, in die Dunkelheit blickend.
Dann hörte sie es wieder, ohne dass sie etwas sehen konnte. Bis plötzlich eine dunkle Gestalt neben ihr stand. Und sie reflexartig einen lauten Schrei ausstieß.
Ohne auf den Schrecken, den sie Beata soeben eingejagt hatte, einzugehen, setzte sich die Dürre neben Beata auf die Hollywoodschaukel. Als sie spürte, wie Beatadaraufhin im Begriff war, aufzustehen, packte sie sie bei der Hand und hielt sie fest umgriffen.
Sie sprach mit einer unheimlichen Monotonie in der Stimme, als spulte man ihre Worte von einem Tonband ab.
„Du hast an Farbe verloren in den letzten Jahren, wie ein gestrandetes, altes Schiffswrack, dem der glänzende Lack durch die stechende Sonne abplatzt. Ohne es zu hinterfragen. Scheinst überhaupt nichts mehr zu hinterfragen. Du sprichst wie eine Außerirdische, dass man dich nicht verstehen kann – als hättest du unsere Sprache vergessen. Verstehst nicht mehr, was wir dir sagen. Hörst es nicht mehr. Hörst du dich selbst noch? Es ist das Kostüm, das dich verwandelt. Doch es schützt dich nicht. Zieh es aus, dann wird alles einfacher werden.“
Als weiche diese fürchterliche Monotonie in der Stimme schließlich dem puren Entsetzen, sagte die Dürre abschließend: „Wieso hast du deine Träume bloß ausgesetzt, Beata?“
Sie ließ Beatas Hand wieder los und stand auf. Und verschwand so schnell in der Dämmerung, wie sie auch gekommen war.
Die Dürre war wieder mal weg.
Und Beata blieb zurück.
***
Beata hatte es an diesem Abend nicht mehr bis in ihr Zimmer geschafft. Sie versackte mit einer Flasche Rotwein, die sie aus der Küche stahl, auf einem der Sofas im Foyer.
Die halbe Nacht ins lodernde Kaminfeuer blickend, hatte sie sich für diesen Abend einfach sprichwörtlich ins Koma befördert. Was sich natürlich rächen sollte, denn sie war todmüde am nächsten Morgen und fühlte sich noch
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