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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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DER LEINWANDMESSER
    Die Geschichte eines Pferdes
     
     
    Gewidmet dem Andenken von M. A. Stachowitsch
    1
     
    Immer höher wölbte sich das Himmelszelt, immer weiter breitete sich die Morgenröte aus, immer weißer wurde das matte Silber des Taus, immer fahler die Mondsichel, immer klingender der Wald; die Menschen standen allmählich von ihrer Nachtruhe auf, und im herrschaftlichen Gestütshof ertönte immer häufiger das Schnaufen, das Scharren im Stroh und ab und zu auch ein wütendes, schrilles Wiehern der sich am Tor drängenden und sich gegenseitig stoßenden Pferde.
    »Nuu! Ihr kommt noch zurecht! Seid wohl ausgehungert?«, rief ihnen der alte Pferdeknecht zu, als er das knarrende Tor öffnete. »Wohin?«, schrie er mit drohend erhobenem Arm eine junge Stute an, die den Versuch machte, durchs Tor zu schlüpfen.
    Der Pferdeknecht Nester hatte einen Kosakenrock an, um den ein mit Beschlägen verzierter Ledergurt geschnallt war; die Peitsche hatte er über die Schulter geworfen und einen Beutel mit Brot am Gurt befestigt. In den Händen trug er einen Sattel und Zaumzeug.
    Die Pferde waren durch den spöttischen Ton ihres Wärters durchaus nicht erschrocken oder gekränkt, sondern taten höchst gleichmütig und zogen sich ohne Hast vom Tor zurück. Nur eine alte braune Stute mit langer Mähne legte die Ohren flach an den Kopf und drehte sich mit einer raschen Bewegung um, woraufhin eine junge Stute, die weiter hinten stand und eigentlich nichts damit zu schaffen hatte, gellend zu wiehern begann und nach dem erstbesten Pferd mit den Hinterbeinen ausschlug.
    »Nuu!«, erhob der Pferdeknecht die Stimme noch drohender und ging dann in eine Ecke des Hofes.
    Von allen Pferden, die sich im Gestütshof befanden – es waren annähernd hundert Tiere –, zeigte sich ein scheckiger Wallach, der einsam in einer Ecke unter dem Schutzdach stand und mit halb zugekniffenen Augen den Eichenpfosten des Stalles beleckte, am wenigsten ungeduldig. Welchen Geschmack er dem Pfosten abgewinnen konnte, ist kaum zu begreifen, doch gab er sich seinem Tun mit ernstem, versonnenem Gebaren hin.
    »Laß den Unfug!«, rief ihm der Pferdeknecht in der gleichen Tonart zu, während er an ihn herantrat und den Sattel sowie eine vom Schweiß glänzend gewordene Filzdecke neben ihn auf den Mist legte.
    Der scheckige Wallach hörte mit dem Lecken auf und sah den Pferdeknecht lange und regungslos an. Er stieß weder ein vergnügtes noch ein unzufriedenes oder mürrisches Wiehern aus, sondern zog nur den Bauch ein und wandte sich tief aufseufzend von ihm ab. Der Pferdeknecht umfasste den Hals des Wallachs und streifte ihm das Zaumzeug über den Kopf.
    »Was seufzt du denn?«, fragte Nester.
    Der Wallach schwang den Schweif, als wollte er sagen: »Ach, nur so, Nester.« Als Nester ihm nun die Filzdecke auf den Rücken warf und den Sattel darauflegte, drückte der Wallach die Ohren flach an den Kopf, wahrscheinlich, um seine Unzufriedenheit zu zeigen, was ihm jedoch nur ein paar Schimpfworte und ein Anziehen des Bauchgurts eintrug. Der Wallach blähte sich dabei auf, doch da steckte ihm Nester einen Finger ins Maul und stieß ihn mit dem Knie in den Bauch, so dass er die Luft ausstoßen musste. Nichtsdestoweniger drückte er, als Nester die Riemen über dem Sattel mit den Zähnen anzog, die Ohren abermals an den Kopf und blickte sich sogar missmutig um. Wenngleich er auch wusste, dass ihm das nichts helfen würde, schien er es dennoch für angebracht zu halten, zu zeigen, dass ihm dies unangenehm sei und dass er seine Unzufriedenheit immer bekunden werde. Als er fertig gesattelt war, stellte er das angeschwollene Vorderbein vor und begann auf der Kandare zu kauen; offenbar tat er auch dies aus irgendwelchen besonderen Erwägungen heraus, denn er musste ja längst wissen, dass dem Metall keinerlei Geschmack abzugewinnen war.
    Nester schwang sich, einen Fuß in den kurzen Steigbügel stellend, aufs Pferd, wickelte die Peitsche auseinander, schob unterhalb der Knie die Enden seines Kosakenrocks beiseite und setzte sich mit jener besonderen Haltung in den Sattel, die Kutschern, Jägern und Pferdeknechten eigen ist. Als er dann die Zügel anzog, hob der Wallach zwar den Kopf und zeigte seine Bereitschaft, sich in jede gewünschte Richtung in Bewegung zu setzen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Er wusste, dass es vor dem Losreiten noch allerlei Geschrei geben würde, weil Nester dem zweiten Pferdeknecht, Waska, vom Sattel aus noch verschiedene Anweisungen
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