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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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wirklich etwas Neues und Überraschendes, was sie von ihm erfuhren.
    Sie erfuhren von ihm Folgendes.
     
    Die erste Nacht
     
    »Ja, ich bin ein Sohn Ljubesnys I. und Babas. Meinem Stammbaum zufolge lautet mein Name Mushik I. So heiße ich wohl dem Stammbaum nach, aber wegen meiner weit ausgreifenden, langschrittigen Gangart, wie sie in ganz Russland noch bei keinem zweiten Pferd vorgekommen ist, haben mir die Menschen den Rufnamen Leinwandmesser zugelegt. Meiner Abstammung nach gibt es in der ganzen Welt kein Pferd von reinerem Geblüt als mich. Ich würde euch das nie gesagt haben. Wozu? Ihr hättet nie zu wissen bekommen, wer ich bin. Ebenso wenig wie es Wjasopuricha gewusst hat, die mit mir zusammen in Chrenowo gewesen ist und mich jetzt erst wiedererkannt hat. Ihr würdet mir auch jetzt nicht Glauben schenken, wenn ich nicht Wjasopuricha als Zeugin hätte. Ich würde auch das alles nie gesagt haben, denn das Mitleid anderer Pferde brauche ich nicht. Aber ihr habt es herausgefordert. Ja, ich bin jener Leinwandmesser, den so viele Pferdeliebhaber suchen und nicht finden können, jener Leinwandmesser, den der Graf selbst gekannt und aus seinem Gestüt verstoßen hat, weil ich sein Lieblingspferd Lebed besiegt habe …
    Als ich geboren wurde, wusste ich nicht, was das Wort scheckig bedeutet; ich dachte nur, dass ich ein Pferd bin. Die erste Bemerkung über die Farbe meines Fells, weiß ich noch, hat mich und meine Mutter ganz betroffen gemacht. Ich wurde, glaube ich, nachts geboren, und am Morgen darauf stand ich schon, von meiner Mutter sauber abgeleckt, auf den Beinen. Wie ich mich noch erinnern kann, verlangte es mich immerzu nach irgendetwas, und alles kam mir ungemein verwunderlich und zugleich ungemein einfach vor. Die Boxen lagen bei uns an einem langen, warmen Korridor und hatten Gittertüren, durch die man alles sehen konnte. Meine Mutter wollte mich zum Saugen bewegen, aber so unerfahren, wie ich noch war, stieß ich mit der Nase bald an ihre Vorderbeine, bald an den Trog. Plötzlich drehte meine Mutter den Kopf nach der Gittertür um, hob ihr Bein über mich hinweg und zog sich zur Seite zurück. Durch die Gittertür blickte der Stallknecht, der an jenem Tage Dienst hatte, in unsere Box.
    ›Sieh da, Baba hat ein Fohlen geworfen‹, sagte er und schob den Riegel zurück; er kam über das frisch ausgebreitete Stroh auf mich zu und umfasste mich mit den Armen. ›Schau mal her, Taras, wie scheckig es ist‹, rief er. ›Ganz wie eine Elster.‹
    Ich riss mich von ihm los und fiel, in den Knien einknickend, zu Boden.
    ›Sieh mal an, dieser kleine Teufel!‹, sagte er.
    Meine Mutter wurde unruhig, unternahm aber nichts, mich zu schützen, sondern stieß nur einen tiefen, schweren Seufzer aus und verzog sich ein wenig zur Seite. Die übrigen Stallknechte kamen hinzu und betrachteten mich. Einer von ihnen lief zum Stallmeister, ihm Meldung zu machen. Sie lachten alle, als sie sich mein scheckiges Fell ansahen, und gaben mir verschiedene komische Namen. Was diese Namen bedeuteten, wussten weder ich noch meine Mutter. Bis dahin hatte es bei uns, in unserem ganzen Geschlecht, noch niemals einen Schecken gegeben. Wir dachten nicht, dass ein scheckiges Fell etwas Schlechtes sein könnte. Meine Statur aber und meine Kraft wurden schon damals von allen gelobt.
    ›Ei, was für ein Wildfang er ist‹, sagte der Stallknecht. ›Man kann ihn kaum bändigen.‹
    Nach einer Weile fand sich der Stallmeister ein; mein Fell versetzte ihn in Staunen, und er schien sich sogar darüber zu ärgern.
    ›Nach wem kann er bloß geschlagen sein, dieses Scheusal?‹, sagte er. ›Der General wird ihn nicht im Gestüt dulden. Ach, Baba, da hast du mich schön reingelegt‹, wandte er sich an meine Mutter. ›Da hättest du schon lieber einen Weißnäsigen werfen sollen anstatt einen solchen Schecken.‹
    Meine Mutter antwortete nichts und stieß, wie sie es in solchen Fällen immer tat, abermals einen Seufzer aus.
    ›Von welchem Satan kann er es bloß haben?‹, fuhr er fort. ›Richtig wie ein Bauerngaul sieht er aus. Im Gestüt kann er nicht bleiben, das wäre eine Schande. Aber sonst ist er ein stattliches, ein sehr stattliches Tier‹, fügte er hinzu, und das Gleiche sagten auch alle andern, wenn sie mich betrachteten. Nach einigen Tagen erschien auch der General selbst, um mich in Augenschein zu nehmen; da taten alle wiederum ganz entsetzt und beschimpften mich und meine Mutter wegen der Farbe meines Fells. ›Aber ein
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