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Die galante Entführung

Die galante Entführung

Titel: Die galante Entführung
Autoren: Georgette Heyer
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    Am Ende eines feuchten Herbsttages fuhr kurz vor acht Uhr eine Postkutsche auf der Londoner Straße in Bath ein und hielt bald darauf vor einem Haus am Sydney Place. Es war ein Mietfahrzeug, jedoch vierspännig, und die Erscheinung der Dame, die im Fond saß, ließ keinen Zweifel daran, daß sie sich eine Privatkutsche mit ihren eigenen Postillionen sehr wohl leisten konnte. Sie wurde von einer Dienerin mittleren Alters begleitet. Die olivgrüne Redingote aus Köperseide, die sie trug, saß ihrer bewundernswerten Figur so angegossen, daß jede Frauensperson bei dem Anblick des Kleidungsstückes auf den ersten Blick erkannt hätte, daß es von einer erstklassigen Schneiderin stammte. Der Einfachheit und Eleganz des Reisekleides entsprach das Hütchen, das Miss Abigail Wendovers Gesicht kleidsam umrahmte. Gekräuselte Federn oder Blumenbüschel fehlten an dieser Kreation; sie war aus gros de Naples verfertigt und unter dem Kinn mit einem Seidenband gebunden; die Schute war mäßig breit, der Kopf flach; aber es war ein ebenso mondänes Gebilde wie die Redingote.
    Das Gesicht unter dem Hut war weder das eines Mädchens in seiner ersten Blüte noch das einer anerkannten Schönheit, besaß jedoch einen undefinierbaren Zauber, der vor allem in den Augen und dem scheuen Lachen lag, das in ihnen lauerte. Sie waren grau und sehr klug; die Gesichtszüge waren nicht bemerkenswert, denn der Mund war zu groß, um schön zu sein, die Nase vom klassischen Ideal weit entfernt und das Kinn fast etwas zu energisch. Das Haar war weder dunkel, wie das eben en vogue war, noch engelhaft blond, sondern von einem sanften Braun. Es war auch nicht nach der herrschenden Mode kurz geschnitten; die Dame trug es entweder um den Kopf geflochten oder in einem Knoten, aus dem Locken über die Ohren fielen. Gelegentlich und der heftig geäußerten Mißbilligung ihrer Nichte zum Trotz band sie ein Spitzenhäubchen darüber. Fanny behauptete, sie sähe damit wie eine alte Jungfer aus, und protestierte empört, wenn Abigail mit ihrer hübschen, melodischen Stimme antwortete: »Aber ich bin doch eine alte Jungfer!«
    Anscheinend hatte man ihr Eintreffen voll Ungeduld erwartet, denn kaum war die Kutsche vorgefahren, wurde die Haustür aufgerissen und ein Lakai stürzte heraus, um die Stufen der Kutsche herunterzulassen. Ihm folgte ein ältlicher Butler, der seiner Herrin beim Aussteigen half. Er strahlte sie an und sagte: »Guten Abend, Miss Abby! Und es ist ja wirklich ein guter Abend, denn er bringt Sie zurück! Ich bin sehr glücklich, Sie wiederzusehen!«
    »Und wie ich erst glücklich bin, Mitton!« antwortete sie. »Ich glaube nicht, daß ich jemals so viele Wochen fort war. Geht es meiner Schwester gut?«
    »Ziemlich gut, Ma’am – mit Ausnahme einer Spur Rheumatismus. Als Sie abreisten, war sie zunächst ein bißchen bettlägerig und bildete sich ein, sie sei schwindsüchtig – «
    »Nein, doch nicht das!« rief Abby in komischer Bestürzung.
    »Nein, wirklich nicht, Ma’am«, sagte Mitton zustimmend. »Es war nichts als eine epidemische Erkältung, von der ein leichter Husten zurückblieb, wie sie ihr neuer Arzt zu überzeugen vermochte.« Er brachte das im Ton höflicher Ehrerbietung vor, in seinen Augen saß jedoch ein Zwinkern, das Abby unwillkürlich ein Kichern entlockte. Das Zwinkern verstärkte sich, aber Mitton sagte nur: »Und wie froh sie sein wird, Sie wiederzusehen, Miss Abby! Sie ist schon seit Stunden nervös vor Angst, daß es einen neuerlichen Aufschub hätte geben können.«
    »Dann muß ich sofort zu ihr hinaufgehen«, sagte Abby und ging leichten Schrittes ins Haus. Mitton blieb zurück und ließ ihrer Dienerin eine gnädige Begrüßung zuteil werden.
    Da zwischen dem in den Diensten der Familie ergrauten Butler und der ehemaligen Kinderfrau der drei jüngeren Töchter ein ununterbrochener Kampf um den Vorrang herrschte, faßte Mrs. Grimston die Begrüßung, in der sie einen gönnerhaften Ton entdeckte, schlecht auf. Sie ersuchte ihn lediglich, sich nicht darum zu kümmern, wie es ihr gehe, sondern sich bloß um Miss Abbys Schmuckköfferchen zu bemühen.
    Inzwischen war Abby die Treppe hinaufgelaufen und sah, daß ihre Schwester sie schon oben auf dem ersten Treppenabsatz erwartete. Miss Selina umarmte Abby zärtlich, vergoß Freudentränen und bat sie in einem Atemzug, sich nach der ermüdenden Reise sofort hinzulegen, in den Salon zu kommen, sich nicht die Mühe zu machen, auch nur ein einziges Wort zu äußern,
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