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Taqwacore

Taqwacore

Titel: Taqwacore
Autoren: M Knight
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    Kapitel I
     
     
    Bismillahir, Rahmanir * und so weiter  –
    »Er hat seinen rechten Zeigefinger bei einer Wette verloren.«
    »Willst du mich verarschen? Was für eine Wette?«
    »Dass er sich den Finger nicht abschneidet.«
    »Also hat er die Wette gewonnen.«
    »Ja, aber den Finger hat er nicht mehr. Und er war nicht im Krankenhaus oder so. Zuletzt war seine ganze Hand entzündet, er hatte einen Abszess von der Größe eines Golfballs; er wäre daran gestorben, wenn er ihn nicht aufgestochen hätte.«
    »Geht’s ihm wieder gut?«
    »Ja, aber wenn er betet und der Taschahud beginnt, dann muss er anstatt des Zeigefingers seinen Mittelfinger auf- und abbewegen. Das sieht immer so aus, als würde er sich selbst den Stinkefinger zeigen.«
    Ein paar Stunden später waren sie beide bewusstlos.
    In diesem Punk-Haus war scheinbar immer mindestens einer auf, zu jeder Tageszeit, als ob ständig jemand Wache stehen müsste. Als ich nach einer von Jehangirs Partys leise die Treppe herunterkam, hielt ich mich für den Einzigen, der diese inoffizielle Funktion gerade innehatte. Doch als ich das dunkle Wohnzimmer betrat, bot sich mir ein Anblick, der mir wahrscheinlich, Inschallah, noch ewig zu denken geben wird. Bis heute weiß ich nicht, ob mich die Tragik, die Komik oder die Schönheit so getroffen hat, auf eine Weise, die unsere Imame niemals begreifen würden.
    In der Mitte des Raumes, umgeben von fertigen Typen, die auf den Sofas zusammengesackt waren und bedröhnt übereinanderlagen, einer in seiner eigenen Kotze, flankiert von Armeen von leeren braunen Glasflaschen und zerdrückten Dosen, saß ein Punk mit Dutzenden von weit abstehenden Stacheln auf dem Kopf auf einem weißen Pizzakarton. Es war zu dunkel, um zu erkennen, wer es war, aber ich hätte ihn wahrscheinlich sowieso nicht gekannt. Doch ich beobachtete ihn einen Moment lang; er saß auf seinen Fersen, die Hände auf den Knien, und hatte sich dem Loch in der Wand zugewandt, das Umar mit einem Baseballschläger in die billige Gipsverkleidung geschlagen hatte, um Qibla anzuzeigen.
    Der Junge beugte sich zur Sadschda nach vorne, und als er sich wieder aufrichtete, war seine Stirn mit weiß-grauen Sprenkeln übersät, wahrscheinlich aus einem umgekippten Aschenbecher, doch er beugte sich wieder vor, und ich konnte hören, wie sich sein Mund bewegte, wenn ich auch nicht verstand, was er sagte. Dann stand er für ein weiteres Raka auf, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Ein Blick aus dem Fenster ließ mich vermuten, dass es wahrscheinlich Zeit für Al-Fadschr war – Astaghfirullah – und ich mich ihm anschließen sollte, um die Wirkung seines Gebets um das Siebenundzwanzigfache zu vergrößern; stattdessen lehnte ich in der Tür zum Wohnzimmer und sah zu, als würde dieses Salat in unser aller Namen verrichtet. Als er sich wieder aufsetzte, schlich ich durch den Flur davon, bevor er sich zum Salam umdrehen und mich entdecken würde.
    Eine Sache habe ich bei Punks oft beobachtet: Sie sind alle Legenden, jeder Einzelne von ihnen, zumindest in irgendeiner Clique. Selbst wenn man sie nie in ihrem eigenen Element gesehen hat, wenn sich Freunde von Freunden auf einem Parkplatz nur aus Höflichkeit die Hände schütteln, verspürt man unausweichlich eine anhaltende Schwingung, eine comicartige, überschwängliche Ausgelassenheit, als wäre dieser Parkplatz der Schauplatz eines historischen Gipfeltreffens oder eine Szene aus den zehntausend Filmen, die wir gerade leben. So kam es mir zumindest vor; aber was ist eigentlich ein Punk? Auf diese uferlose Diskussion werde ich mich jetzt nicht einlassen, doch ich kann sagen, dass ich während meiner Zeit in diesem Haus auf verschiedene Definitionen gestoßen bin, und mit wachsender Selbstsicherheit von Rude Boys, Riot Grrls, Crust, Oi! und Straight Edge sprechen konnte und genug Jargon lernte, um mich bequem in der Szene bewegen zu können, sodass ich irgendwann tatsächlich dazuzugehören schien; das heißt, falls es Punks gibt, die Ingenieurswissenschaften studieren, weil ihre Eltern es so wollten.
    Unausweichlich kam ich zu der Überzeugung, dass »Punk« nichts Greifbares bezeichnet, wie »Baum« oder »Auto«. Punk ist vielmehr wie ein Banner; ein offenes Symbol, das einfach das bedeutet, was die Leute gerade glauben wollen. In China war eine rote Ampel früher mal das Signal für »Gehen«. Wo soll man da anfangen?
    Ich hörte ungefähr zur selben Zeit damit auf, Punk definieren zu wollen, als ich es aufgab,
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