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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Autoren: Alexandra Tobor
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1.
Das Goldene Buch
    Das Erste was ich sah, als ich am 1. Mai 1986 beschloss, ins Leben zurückzukehren, war die rabenschwarze Turmfrisur meiner Oma. Ich lag auf dem Asphalt, die Haare senkrecht im Wind, der heulend über polnischen Boden fegte. Er schüttelte Apfel- und Kirschblütenblätter von den Ästen, ließ die gestärkten Kleider der Mädchen knattern und wirbelte rote Kreppstreifen durch die Luft. Nur die Schornsteine der Ziegelei und Omas hartgesprühter Haarturm standen unbewegt in der Landschaft.
    »Mutter Gottes von Tschenstochau!«, heulte jemand. »Das Mädchen ist voller Blut!«
    Oma lugte in meine Pupille, die sie mit Daumen und Zeigefinger freigelegt hatte, und zog ihre Lippen zu einer Himbeere zusammen. Dieses Gesicht machte sie, wann immer eine spiegelnde Fläche ihr anbot, sich ihrer Schönheit zu vergewissern.
    »Wenn’s nur Blut wäre …«, seufzte sie, »dann wüsste ich wenigstens, wie ich die Flecken rausbekomme. Und jetzt rücken Sie endlich ab! Haben Sie noch nie ein totes Kind gesehen?« Die Neugierigen, die ihre Hälse nach meinem Leichnam streckten, stoben schnatternd auseinander wie ein Pulk Federvieh. Kurz darauf hörte ich es knistern, und ein herrlicher Duft drang in meine Nase. Der Duft von Zitronendrops.
    »Erwischt!«, rief Oma. Das schnuppernde Zittern meiner Nüstern hatte ihr verraten, dass ich quicklebendig war. Oma grub mir ihre Klunkerhände in die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine.
    »Heiliger Julek, du siehst aus wie eine geschlachtete Gans!«, schimpfte sie, während sie den Kies aus den Rillen meiner Strumpfhose klopfte. »Was sollen die Leute denken, wenn sie dich so mit mir sehen?« Schuldbewusst sah ich zu, wie Oma den Zitronendrops in ihrem Haarturm verschwinden ließ. Dann stopfte sie mir ein großes Taschentuch in den Kragen, damit es die rotbraunen Flecken verdeckte, und band es zu einer aparten Schluppe.
    Ich war auf den Namen Aleksandra getauft, aber gerufen wurde ich Ola. Ich war sechs Jahre alt und hatte gerade meinen einhundertundelften Tod vorgetäuscht. Das Blut auf meinem Kleid war in Wirklichkeit »Płyn Lugola« , eine bittere Flüssigkeit, die mir nach der Maiparade im Spital verabreicht worden war. Vor wenigen Tagen hatte es in der Ukraine eine Explosion gegeben. Seitdem redeten die Erwachsenen von nichts anderem als einer Wolke mit aktiven Radios drin, in deren unheilvollem Schatten Kinder zu Monstern mutierten. Vor diesem Schicksal sollte das Jodgemisch mich bewahren. Ich wusste zwar nicht, wie die widerliche Flüssigkeit verhindern sollte, von einem Radio erschlagen zu werden, das aus einer Wolke fällt, aber ich wusste, dass Ärzte die absurdesten Lügen erfanden, um Kinder zu Tode zu quälen. »Płyn Lugola« war eine davon, und sie hatte mich heute ein weiteres Leben gekostet.
    Seit ich denken konnte, waren vorgetäuschte Tode meine Art, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu umgehen: Schröpfgläser, Zahnbohrer, speerlange Spritzen. Diese Kinder, die sich krank stellten, um nicht in die Schule zu müssen, waren mir ein Rätsel. Wäre ich kein begnadetes Sterbetalent gewesen, hätte ich mich gesund gestellt, um nicht zum Arzt zu müssen. Eine meiner häufigsten Todesursachen war scheußliches Essen; Leber, die sich wie eine alte Sohle in der Pfanne bog, Spinat, der kuhfladengleich in den Kindergartenteller klatschte, übel riechende Zwiebelsäfte und Abhärtungscocktails aus Sauerkraut und Rettich. Meine Eltern ängstigten sich um mich. Sie fürchteten, dass ich bald wirklich sterben könnte. Vor Hunger. Als gäbe es nichts auf der Welt, das mir munden würde. Dabei war ich ein heimlicher Gourmet! Tante Selma hatte aus dem Bulgarienurlaub zehn Tuben Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Ich presste kleine Würste aus den Tuben direkt auf meine Zunge. Außerdem besaß ich einen ganzen Bund chinesischer Bleistifte, an deren Enden samtig gerundete Radiergummis saßen. Wenn ihr Duft mich zu sehr berauschte, biss ich unbeherrscht hinein und verschlang sie wie gezuckerte Beeren.
    Um Viertel nach zwölf, kurz vor meinem Tod also, hatte ich mit Oma Greta das städtische Spital betreten, einen monströsen, graublassblauen Klotz mit vergitterten Fenstern, hinter denen gespenstisch die Schwesternhäubchen knackten.
    »Sehen Sie zu, dass sie es schluckt. Wir können froh sein, wenn’s für alle reicht«, sagte die Krankenschwester zu meiner Oma und streckte mir einen Plastikbecher mit einer dunkelroten Flüssigkeit hin. »Na
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