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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Autoren: Alexandra Tobor
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Ich stürmte hinaus und ließ Leon schnell durch die Zaun-Luke schlüpfen. Während er davonhuschte, sah er sich noch einmal zu mir um und grinste sein zahnloses Grinsen. Kurz glühte in seinen Augen die Abendsonne auf. Es war, als wollte er sagen: »Das Goldene Buch sei der Dank dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.«

2.
B. R. D.
    Wie jedes Kind, das sich auf seine Fantasie etwas einbildet, zweifelte ich daran, dass es nur eine Welt und eine Wirklichkeit gab. Wenn ich mich kopfüber von der Couch hängen ließ, gelangte ich an einen Ort, wo Häuser mit dem Dach nach unten gebaut wurden, die Türschwellen in der Luft hingen und Lampen wie Blumen aus dem Boden schossen. Ich rechnete jeden Tag damit, den Einbauschrank zu öffnen und statt alten Töpfen, Pfannen und Sieben einen Palastsaal zu entdecken. Sobald in Omas Garten die ersten Tulpen zu blühen begannen, sah ich jeden Tag nach, ob Däumelinchen ihr Blütenzimmerchen schon bezogen hatte. Aber Elfen machten keinen Urlaub in Polen. Der Einbauschrank war kein Tor in die Märchenwelt, und ein altes Sieb auf dem Kopf machte kein Einhorn aus mir. Wenn das Blut aus dem Kopf in den Körper zurückfloss, wurde ich wieder Teil jener grauen Welt, in der es nichts Aufregenderes gab, als in einen rotierenden Betonmischer zu starren.
    Aber das Goldene Buch war der erste Anhaltspunkt dafür, dass eine andere Welt nicht nur in meiner Vorstellung existierte. Wie herrlich wäre es, in dieses Buch hineinkriechen und sich zwischen seinen bunt glänzenden Seiten umsehen zu können! Bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bot, wuchtete ich das Goldene Buch aus dem Keller und trug es in mein Geheimversteck; eine uralte Lokomotive, die am Rand des Birkenwaldes, nicht weit von zu Hause, auf einem Stück zugewachsener Gleise stand. Nur von neugierigen Vögeln bespitzelt, konnte ich hier in Ruhe in dem Buch schmökern und die Posen der eleganten Damen üben.
    In den nächsten Wochen herrschte bei den Erwachsenen große Verwirrung über meine plötzliche Unsterblichkeit. Die Tage vergingen, ohne dass ich auch nur einmal röchelnd am Boden erstarrte. »Was ist los mit ihr? Sie isst sogar Rosenkohl!«, stellten meine Eltern verwundert fest. Nur ich allein kannte die Antwort. Die unerschrockene Ola wappnete sich für eine große Reise. Ihre Mission: die Welt aus dem Goldenen Buch zu finden. Ich aß nun widerstandslos alles, was auf den Teller kam. Ich stürzte jeden Gemüsecocktail hinunter, um groß und stark zu werden. Wer konnte schon sagen, welche Hindernisse vor mir lagen? Womöglich gab es Berge zu besteigen, Flüsse zu überqueren. Meine Sorgen galten nur noch dem baldigen Aufbruch. Doch bevor ich mit einem Bündel auf dem Stock losziehen konnte, wie ich es in Abenteuerbüchern gesehen hatte, musste ich mehr über das Goldene Buch erfahren. Leider gab es niemanden, den ich darüber ausfragen konnte. Der Einzige, der von meinem verbotenen Ausflug in den Keller wusste und meine Reisepläne nicht durch Stubenarrest zunichtemachen würde, war Onkel Leon.
    Im Sommer 1986 wurde mein Bruder geboren. Die Niederkunft nahm ihren Lauf, als Selma zu Besuch kam, um als Tomeks Patentante sicherzustellen, dass die Taufe sofort nach der Geburt stattfinden würde. So viele Neugeborene würden dieser Tage sterben und müssten ohne Taufschein an den Himmelstoren stehen, bis der Herrgott sich ihrer erbarmte und sie als Sternschnuppen in ihre Särge zurücksausen ließ. Dieses Schicksal sollte ihrem Schützling erspart bleiben.
    Mama war bemüht, Haltung zu bewahren.
    »Ach, Tantchen. Ich weiß, dass du es gut mit uns meinst, aber erst vor kurzem habe ich gelesen, dass die Kleinen an den Erkältungen sterben, die sie sich bei den eiligen Taufen holen«, und obwohl Selmas Augen bereits zornig herausquollen, ergänzte Mama leise: »Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass der Herrgott in all seiner Güte ausgerechnet unschuldige Kinder bestraft.«
    Selmas Apfelbacken glühten vor Empörung auf.
    »Wie leichtsinnig du daherredest, Danuta. Fürchte Gott!«
    »Verzeih mir, Tantchen. Du hast ja recht«, sagte Mama kleinlaut. Aber ich wusste, dass sie sich nur verstellte. Immer wenn Mama wütend wurde, geschah etwas Außerordentliches. Manchmal fiel der Strom aus, manchmal zersprang ein Glas, aber nie hatte Mama einem schlechten Gefühl erlaubt, in ihrem Gesicht zu wüten. Auch diesmal bewahrte sie ein sanftes Antlitz, als ihr unvermittelt die Fruchtblase platzte.
    »Jesusmaria! Es ist doch noch
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