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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Autoren: Alexandra Tobor
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viel zu früh!« Mama starrte ungläubig auf die Pfütze zwischen ihren Beinen.
    »Das ist deine gerechte Strafe, dass du an den Wegen des Herrn zweifelst«, murmelte Selma, als Mama unter Krämpfen zu Boden sank.
    In der Klinik war es kalt und grau wie in einem vergessenen Aschenbecher. Kaum traten wir aus dem Aufzug auf die Entbindungsstation, riss eine Krankenschwester Papa den Blumenstrauß aus der Hand.
    »Unhygienisch«, knurrte sie. »Außerdem keine Besuche mehr heute. Auf Wiedersehen.«
    Die Schwester verschwand samt Blumenstrauß um den hellblau gekachelten Gang. Hinter einer Glasscheibe entdeckten wir jetzt Mama, die uns linkisch entgegenwankte, zerzaust, ihre Augen zwei schwarze Brandlöcher. Ein fleckiger Morgenmantel hing ihr von den Knochen. Sie fuchtelte mit einem Zettel, während ihr Mund viele unhörbare Wörter formte. Ich streckte die Hand nach ihr aus und begann zu weinen.
    »Komm, wir müssen wieder nach unten«, sagte Papa. »Mama hat eine Nachricht für uns.«
    Vor der fensterreichen Hinterfront des Spitalblocks erkannten wir Mama am langen Zopf, den sie herabbaumeln ließ. Ihr Brief drehte langsame Pirouetten in der Luft und landete im Staub vor unseren Füßen. Papa faltete den Zettel auseinander und las:
    Meine Lieben,
    lasst Euch nicht von meinem Aussehen irreleiten, ich habe die Geburt überlebt. Tomek ist gesund, aber sehr schwach. Die Ärzte kümmern sich um ihn. Ich liege mit einer anderen Frau auf dem Gang, weil es in den Zimmern keinen Platz für uns gab. Sie hat mir anvertraut, dass sie im Herbst rausfahren wird, damit ihr Kind kein magerer Zwerg bleibt. Wenn Ihr Tomek sehen wollt, müsst Ihr mit der Krankenschwester verhandeln. Für eine Packung Kaffee lässt sie sicher mit sich reden.
    Küsse, Mama
    »Wohin will die Frau fahren?«, fragte ich Papa, als wir wieder im Bus nach Hause saßen.
    »Welche Frau?«
    »Die Freundin von Mama. Wohin muss sie fahren, damit ihr Kind kein Zwerg bleibt?«
    »Za granice« , antwortete Papa. Hinter die Grenze.
    Am Tag von Tomeks Taufe türmten sich in den Küchen des Hauses die besten Teller, klingelten silberne Löffel durch betagtes Porzellan. Oma hatte den Tisch auseinandergezogen und ihn mit der protzigsten aller Tischdecken bekleidet. Die weiß blendende Steifheit ihrer Gardinen würde die Ehrfurcht von Gästen und Spaziergängern erregen. Stunden hatte sie damit zugebracht, kleine Frösche aus Gürkchen zu schnitzen, mit Augen aus Nelken und Karottenzungen. Die Tiere hockten auf Seen aus Aspik, unter denen verzehrfertiger Fisch zitterte. Auf der Klappe der offenen Schrankbar reihten sich Flaschen mit selbstgemachtem Eierlikör. Oma Greta war auf alles vorbereitet, nur darauf nicht: dass ein Stuhl an ihrem perfekten Festtagstisch leer bleiben würde.
    »Wo ist mein Bruder!?«, stöhnte Mama zum wiederholten Mal, während die Taufgäste in die Kirchenbank rutschten. »Er wird es doch nicht vergessen haben. Marek weiß doch seit Monaten, dass er Taufpate ist.«
    »Ein Langschläfer ist er«, rief Oma Greta dazwischen. »Ich wette, dass er noch im Bett herumfault. Den muss man nur ordentlich raustreten. Ewald, fahr doch mal rüber und schau nach dem Rechten. Und stell sicher, dass er sauber, gekämmt und fein angezogen ist.«
    Onkel Ewald fuhr sofort los. Derweil fand die Taufe ohne Onkel Marek statt.
    Als Oma nach der Messe eine Torte nach der anderen in den Garten trug, war Onkel Ewald immer noch nicht zurück. Während die Erwachsenen wie immer durcheinanderbrüllten, krabbelte ich unter den Tisch, wo niemand Notiz von mir nahm. Das meiste, was ich über meinen Großvater Adelbert wusste, habe ich unter diesem Tisch erfahren, auf allen vieren, zwischen den wippenden Waden meiner Tanten und Onkel. Jedes Kind wusste, dass man nicht schlecht über die Toten sprechen durfte, aber diese Regel ließ Oma nicht für sich gelten. Wenn sich jemand wehmütig an Opas träumerischen Blick erinnerte, fuhr sie dazwischen: »Hör doch auf! Adelbert hatte Augen wie zweimal mit dem Stock in Scheiße gestochen«, und als Tante Maria einmal fragte »Warum bist du so hart mit ihm? Ihr wart doch glücklich!«, antwortete Oma: »Natürlich waren wir glücklich. Dann haben wir uns kennengelernt!«
    Nun schmauchten die Onkel Zigarren und schimpften über die Politik, die Tanten über den Zigarrenqualm und das sinnlose Gerede ihrer Männer. Endlich hörte ich den Kies unter den Rädern von Onkel Ewalds Auto spritzen. Mit einem lauten Rums! schlug die Tür zu, und Onkel
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