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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Prolog
     
    Januar 1893, irgendwo in den peruanischen Anden …
    Der Atem des Mannes ging stoßweise. Seine Haut glänzte im warmen Licht der Abendsonne. Schweiß, Blut und Staub hatten auf seiner Kleidung Spuren hinterlassen. Fleckig und zerknittert klebte der Stoff auf seiner Haut und ließ seine Arme und Beine darunter hervortreten. Der breite Hut, der ihn vor der südamerikanischen Sonne geschützt hatte, war ihm bereits vor Tagen verloren gegangen. Ein tragischer Verlust, bedachte man, welche Kraft die Sonne hier entfalten konnte. Nun drohten ihre Strahlen ihm auch noch das letzte bisschen Verstand auszudörren.
    Sein schütteres Haar flatterte im aufkommenden Wind wie grauer Rauch. Nur langsam arbeitete sich der Mann vorwärts. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte er sich entlang eines schmalen Simses, den die innere Kraft der Erde vor Urzeiten aus der Felswand gebrochen hatte. Während er mit den Fingern in den Ritzen des rauen Granits nach Halt suchte, versuchte er krampfhaft, nicht nach unten zu schauen. Der Anblick des bodenlosen Abgrunds übte eine geradezu hypnotische Anziehungskraft aus. Die verlockende Kraft der Tiefe konnte jeden – mochte er auch noch so schwindelfrei sein – irgendwann zu sich herabziehen.
    Die Aussicht war gleichermaßen faszinierend wie erschreckend. Hin und wieder öffnete sich unter seinen Füßen eine Lücke zwischen den Wolken und erlaubte einen Blick in noch größere Tiefen. Dort schimmerte dunkel und geheimnisvoll der Urwald. Wie ein smaragdfarbenes Moospolster, dessen Oberseite an manchen Stellen von verirrten Sonnenstrahlen erhellt wurde, lag er da.
    Der Mann schloss die Augen. Noch fester klammerten sich seine Finger in den Stein. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er den Halt verlöre. Sein Sturz würde vermutlich eine halbe Ewigkeit dauern. Zum Glück gehörte er nicht zu den Menschen, die unter Höhenangst litten. Er hatte schon viele Berge erstiegen, war über die Mauerkronen turmhoher Ruinen geklettert und hatte Hängebrücken überquert, bei denen so manchen seiner Kollegen die Angst gepackt hätte. Aber dies hier war anders. Eine solch immense Felswand war mit dem Verstand nicht mehr zu erfassen. Hier versagten alle Vergleiche. Zwei Kilometer steil nach unten abfallend und mindestens einen Kilometer über seinem Kopf aufragend, bildete sie das größte vertikale Plateau, das je ein Mensch erblickt hatte. Ein Naturwunder, vor dem selbst die Victoriafälle in Afrika oder der Grand Canyon in Nordamerika wie billige Jahrmarktsattraktionen aussahen. Und als wäre das noch nicht genug, war er hier auf eine Kultur gestoßen, die so außergewöhnlich war, dass es ihm daheim kein Mensch glauben würde. Doch er verfügte über unwiderlegbare Beweise. Was er an seiner Seite in einer ledernen Umhängetasche mit sich führte, war wertvoller als alles, was er zu Hause auf seinem Bankkonto hatte. Wertvoller als sein Haus in New Jersey einschließlich des benachbarten Anwesens seiner Eltern. Dieser Schatz war in Zahlen nicht zu bemessen, auch wenn er eher geistiger denn materieller Natur war. Ein Schatz des Wissens, der das Leben der Menschen für immer verändern konnte.
    Das einzige Problem bestand darin, ihn unversehrt nach Hause zu bringen. Denn wie bei allen großen Geheimnissen gab es auch hier jemanden, der verhindern wollte, dass etwas davon an die Öffentlichkeit geriet.
    Über die Hälfte des Weges hatte er zurückgelegt, als er sich eine kleine Atempause gönnte. Die Sonne stand so niedrig, dass sein Körper einen langen Schatten auf die goldene Felswand warf. Vor sich konnte er bereits den Pfad erkennen, der in die Freiheit führte. Das Buschwerk und die dichten subtropischen Wälder boten ausreichend Versteckmöglichkeiten – vorausgesetzt, er erreichte sie, bevor die Sonne verschwand. Ein Abstieg bei Dunkelheit wäre reiner Selbstmord und die Nacht kam schnell in diesen Breitengraden. Zweihundertfünfzig Meter trennten ihn von seinem Ziel. Ein ganzer Viertelkilometer entlang eines Vorsprungs, nicht breiter als ein Handtuch – ohne Schutz, ohne Ausweg und ohne die Möglichkeit einer Abkürzung. Er saß hier wie auf dem Präsentierteller. Bisher hatte er Glück gehabt. Offenbar hatten seine Verfolger nicht damit gerechnet, dass er so tollkühn sein würde, diesen Weg einzuschlagen. Wenn sie ihn suchten, dann bestimmt an allen möglichen anderen Orten. Die Frage war nur: Wie lange noch? Wann würden sie auf den Gedanken kommen, dass er
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