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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Autoren: Alexandra Tobor
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Ewald schlurfte mit hängendem Kopf der Tischgesellschaft entgegen.
    »Marek ist rausgefahren«, sagte er mit Grabesstimme.
    Alle laufenden Gespräche verstummten. Die Waden der Onkel und Tanten schossen für einen Moment nach oben, wie beim Arzt, wenn er mit dem Hämmerchen das Knie anschlägt. Dann brach das Chaos aus und Stimmen plärrten durcheinander wie unzählige aufgedrehte Radios. Ich krabbelte mal vor, mal zurück, um so viel aufzuschnappen wie möglich.
    »Marek ist jung. Er hatte hier keine Zukunft.«
    »Dort gibt es Wohnungen. Bei uns müsste er noch zwanzig Jahre drauf warten.«
    »Was will er bei denen? Der hat doch nichts!«
    »Das Land verlassen, das ist der polnische Traum!«
    »Seine Arbeit in der Bleihütte ist er für immer los.«
    »Gnade ihm Gott, dass er nicht auf unseren Papst hört!«
    »Das arme Kind! Wer wird in der Fremde für ihn kochen?«
    Es gab niemanden, der nicht etwas zu sagen gehabt hätte. Und immer wieder drangen durch den Tumult drei Buchstaben in mein lauschendes Ohr: B , R , D , geraunt, gehaucht, geflüstert, drei Buchstaben wie eine verbotene Zauberformel.
    In den nächsten Monaten sah ich meine Eltern kaum. Wenn sie nicht auf der Jagd nach Babynahrung waren, fuhren sie mit Tomek zu Spezialärzten, die ihm Drähte an den Kopf montierten und allerlei Messungen an ihm vornahmen.
    Oma verbrachte derweil die Nachmittage auf der Veranda. Dort empfing sie ihre wohlfrisierten Freundinnen, die Konversationen über Krampfadern und Tortengüsse führten, während sie mit spitzen Schlürfmündern den Kaffeesud von der dicken Fusselschicht am Tassengrund trennten. Sobald ich mich zu ihnen gesellen wollte, dirigierte Oma mich mit einer Pfauenfeder hinaus. »Hast du keine Freundinnen in deinem Alter?«, fragte sie dann, und ich zog trüber Stimmung von dannen. Aber seit ich das Goldene Buch hatte, machten mich Omas Bemerkungen nicht mehr traurig. Ich hatte sogar mein Interesse an Betonmischern verloren. Jede freie Minute verbrachte ich im Wrack der Lokomotive und stellte mir vor, wie es wäre, einen rosafarbenen Micky-Maus-Pyjama zu tragen. Manchmal kratzte ich mit einem Stock drei Buchstaben in den Dreck: B , R , D . Aber was sie bedeuteten, sollte ich erst später erfahren. Und zwar kurz nach meiner Einschulung im Herbst 1988.
    Die Mädchen saßen links, die Jungen rechts, wie in der Kirche. Unsere Lehrerin hatte mir einen Platz in der letzten Reihe zugewiesen, neben einem großgewachsenen, sommersprossigen Mädchen namens Aneta. Wenn wir der Lehrerin morgens patriotische Gedichte vorzwitscherten, blickte ich auf fünf Reihen stramm gescheitelter Hinterköpfe, an denen je zwei Zöpfe hingen, fest geflochten und unter großen weißen Schleifen zu Schnecken geschlungen. Wir trugen alle dieselbe Schuluniform, einen schlichten, dunkelblauen Kittel mit weißem Kragen, der über die Kleidung geknöpft wurde. Paarweise und kerzengerade saßen wir in dunkelgrünen Pultbänken, deren Splitter uns Fäden aus den Strumpfhosen zogen. Nur ein einziges Mädchen hatte nie einen Schulkittel an, und sie trug auch nie weiße Schleifen im Haar.
    »Siehst du die da vorne, die keinen Kittel anhat?«, hatte Aneta mir am ersten Schultag zugezischelt. »Das ist Ania. Meine Mutter hat gesagt, dass sie keinen Vater mehr hat. Er ist letztes Jahr rausgefahren .«
    In den Pausen scharten sich alle um Anias Schulbank. Die Kinder befühlten die roten Plastikkirschen, die Anias Pferdeschwanz zusammenhielten, und streichelten ihr Mäppchen, das von ganz anderer Art war als unsere chinesischen Holzkästchen mit Schiebedeckel. Es war weich und glänzte, es hatte einen Reißverschluss und Tiere mit Wackelaugen vorne drauf. Dafür, dass Ania weder einen Vater noch eine Schuluniform hatte, wirkte sie ziemlich fröhlich. Es gab in meiner Klasse so viele Mädchen, die sich um Anias Freundschaft rissen, dass ich Frieden mit dem Gedanken schloss, nie hinter ihr Geheimnis zu kommen.
    Das Wunder geschah an einem frühherbstlich kühlen Morgen. Ich war unterwegs in die Schule und hatte einen Umweg über die Betonsiedlung genommen, um mir von meinem Ersparten im nahegelegenen Kiosk einen Donald -Kaugummi für die Pause zu kaufen. Gerade hatte ich das Geld durchs Kioskfensterchen geschoben, als ich Anias Plastikkirschen-Zopf an mir vorbeihuschen sah. Da kam ich auf die Idee, ihr den Kaugummi zu schenken. Vielleicht konnte ich so ihre Freundschaft gewinnen. Doch bevor ich sie einholen und anstupsen konnte, blieb ich wie angewurzelt
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