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Und der Herr sei ihnen gnädig

Und der Herr sei ihnen gnädig

Titel: Und der Herr sei ihnen gnädig
Autoren: Faye Kellerman
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Prolog
    Da der Mord so lange wie ein Geheimnis behandelt worden war, hatte er mythologische Ausmaße angenommen. Hier aber war der Beweis, die greifbare Bestätigung, dass er tatsächlich stattgefunden hatte. Mitten in der Nacht, in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnung, schlitzte Rina vorsichtig den braunen, in München abgestempelten Umschlag auf und zog mit zitternden Händen die darin enthaltenen Papiere heraus: Fotokopien von Dokumenten, datiert aus den späten zwanziger Jahren. Mama hatte immer gesagt, sie sei zehn gewesen, als es passierte, aber wie sich nun herausstellte, war sie sogar noch jünger gewesen. Die verblasste, kaum lesbare Schrift hätte selbst dann ein Problem dargestellt, wenn es sich um Englisch gehandelt hätte. Es würde mehr als ihre Jiddisch-Kenntnisse erfordern, den Text zu entziffern.
    Der Umschlag war am Spätnachmittag mit der Post gekommen. Dies war ihre erste Gelegenheit, sich die Seiten anzusehen, ohne von den Kindern oder Peter gestört zu werden.
    Peter.
    Sie hatte ihm nichts davon erzählt. Es war ganz spontan geschehen, als sie am ersten Tag ihres Aufenthalts allein durch die bayerische Hauptstadt wanderte, während er seinen Jetlag ausschlief. Sie hatte sich zu dem Spaziergang entschlossen, weil sie hoffte, an der frischen Luft die nagende Ruhelosigkeit abschütteln zu können, die sie plagte, seit das Flugzeug auf deutschem Boden gelandet war.
    Kaum zu glauben, dass sie ausgerechnet München als Urlaubsziel gewählt hatte. Andererseits stand ihr nur eine Woche Zeit zur Verfügung, um etwas zu planen. Sie war nach den New Yorker Strapazen so erschöpft gewesen, und Peter hatte zu dem Zeitpunkt kurz vor dem totalen Zusammenbruch gestanden. Da hatte sie die Planung nur allzu gern einer dritten Person überlassen.
    Inzwischen sah alles wieder besser aus - zumindest redete sie sich das ein -, wenn auch noch längst nicht normal. Rina wusste lediglich, was Peter auch seinen Vorgesetzten und der Presse über die Morde und die Schüsse auf ihn mitgeteilt hatte. Trotzdem war ihr klar, dass in seinen grauen Zellen wesentlich mehr verborgen lag, Dinge, über die er nicht mit ihr sprechen wollte. Zumindest aber hatte er mit seinem Bruder Randy, der ebenfalls Polizist war, ein paar längere Gespräche geführt.
    Randy hatte darauf bestanden, dass sie die Reise machten, und zwar allein. Er schlug vor, auf Hannah aufzupassen, damit nicht die ganze Last an Peters Eltern hängen blieb. Dass sie sich zu einer Woche in München entschlossen, war eine reine Verzweiflungstat gewesen. Rinas Freundin, Ellen Nussburger, hatte angeboten, alles für sie zu organisieren.
    Ich kann gar nicht fassen, dass ich mich dazu wirklich überreden lasse, hatte Rina zu ihr gesagt.
    Du wirst es nicht bereuen, hatte Ellie geantwortet. Es wird ganz anders sein, als du es dir vorstellst.
    Aber es war genau so gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als um sie herum nur noch Deutsch gesprochen wurde, war ein Gefühl der Beklemmung in ihr hochgekrochen. Sie hatte es nach reiflicher Überlegung abgelehnt, nach Dachau zu fahren. Das Letzte, was Peter jetzt brauchte, war noch mehr Zerstörerisches in seinem Leben, und für sie galt dasselbe.
    Trotzdem war die ganze Woche von einer gewissen Bedrücktheit überschattet gewesen, weil es ihr einfach nicht möglich war, über den Marienplatz oder durch die Kaufingerstraße zu gehen, ohne an das jüdische Blut zu denken, das auf deutschem
    Boden vergossen worden war. Immer wenn sie am Hofbräuhaus vorbeikamen, war ihr, als würden Geister das Horst-Wessel-Lied herausschreien.
    Das einzig Versöhnende war Ellies Arbeit, mit der sie versuchte, eine jüdische Religionsgemeinschaft aufzubauen. Dass Ellie und ihr Mann Larry sich dafür ausgerechnet Deutschland ausgesucht hatten, bewies ihren Nonkonformismus, aber das war typisch Ellie. Rina musste an ihre gemeinsamen Schuljahre denken, ihre Zeit im Kindergarten. Als sie beide fünf waren und Purim gefeiert wurde, hatten sich die meisten anderen Mädchen als Königin Esther oder Prinzessin verkleidet. Ein paar waren als Ballerinen gekommen, einige als Clowns und zwei als Schmetterlinge. Ellie war in einem selbst geschneiderten, ziemlich sackartigen Kostüm erschienen, das aussah wie eins von jenen doppelseitigen Werbeplakaten, die mittels verbindendem Schulterriemen auf Bauch und Rücken getragen wurden. Die vordere Stoffbahn war mit einem blauen Himmel und weißen, flauschigen Wölkchen bedruckt, in deren Mitte eine große Filzsonne
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