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Angezogen - das Geheimnis der Mode

Angezogen - das Geheimnis der Mode

Titel: Angezogen - das Geheimnis der Mode
Autoren: Barbara Vinken
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Die neuen Beine der Frauen
    Manhattan im März: Ich sehe aus dem Fenster auf den Washington Square. Es ist neun Uhr morgens. Zielstrebig laufen die Leute über den Platz, in die Schule, zu den Seminaren an der Universität, zur Arbeit in die Geschäfte. Die Portiers tragen Arbeitsuniform und kümmern sich um Straße und Vorgärten. Die jüngeren Latinos unter ihnen haben raffiniert dünn rasierte Bärte. Bei den Männern, die keine Arbeitsuniform tragen, bestimmen zwei Silhouetten das Straßenbild: Anzug, eher schmal geschnitten, mit kurzem Mantel, gedeckte Farben. Blazer mit Flanellhose oder Chinos. Klassische Halbschuhe, Budapester, alternativ Loafers. Oder Jeans, Cordhosen mit Blouson, der unter der Taille oder unter dem Po abschließt, dazu Turnschuhe oder turnschuhartige Halbschuhe, dunkel, beides nicht enganliegend, kurze Haare. Die Jungs im Gangster-Style sind noch nicht unterwegs. Ihre weit hängenden Jogginganzüge sind jedenfalls eines nicht: körperbetont.
    Bei den weiblichen Silhouetten geht es nur um Beine, Beine, Beine. Lang, sehr lang, oft bis zum Schritt sichtbar. Beine in Leggings oder engen Hosen. Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts oder sehr kurzen Röcken. Und dazu Stiefel in allen Längen, oft bis übers Knie. Diese langen Stiefel sind meistens flach. Die kürzeren Stiefel, weit in Falten fallend oder grob klotzig, fast martialisch, haben einen kantigen Absatz. Oft werden die dann noch endloser wirkenden Beine durch Plateausohlen verlängert. UGGs werden in allen Lebenslagen und Varianten rund um den Globus getragen: klassisch aus schwarzem oder braunem Schafsleder, paillettenbesetzt, mit Knöpfen wie ein Pullover. Mit solchen Schuhen trippelt und stöckelt mannicht; man tritt bestimmt auf. Die Stiefel in weichen Falten gemahnen an Landsknechte, die gröberen, klotzigen an Trapper im wilden Westen: »These boots are made for walking.«
    Diese Beine haben offensichtlich wenig gemein mit den klassischen Frauenbeinen, die in durchsichtigen, hauchdünnen Strümpfen durch das Spiel von Nacktheit und Verhülltsein bestimmt waren. Generell sind die Nylonstrümpfe in den letzten 30 Jahren durch Phantasiestrümpfe verdrängt worden. Netz und Häkel, aufwendige Spitze, raffinierte Muster und bestickte Strümpfe, dicke bunte Wollstrumpfhosen, Leggings und Overknees haben den Strümpfen und Strumpfhosen ein viel größeres Eigengewicht gegeben. Nicht das nackte Bein, das durch den Nylonstrumpf noch seidig nackter wirken sollte, sondern das angezogene, geschmückte, bestrickte Bein trat in den Vordergrund. Damit wurde die bestimmende, die Geschichte des Rocks und damit die des Seidenstrumpfs begleitende Frage: Wie hoch kann man das Bein sehen? Wie kurz oder wie hoch geschlitzt ist der Rock? ad acta gelegt. Die Frage, ob man beim Schaukeln, Sitzen oder Bücken gar unter den Rock gucken kann, ob er zu hoch hinaufrutscht, ob er enganliegend zu viel preisgibt, zu durchsichtig ist oder gar schwingend über den Kopf geweht wird, hat sich erledigt.
    Marilyn Monroe im heißen New Yorker Sommer auf dem U-Bahnschacht, dessen kühle Luft ihr den Rock hochbläst, wurde zu der erotischen Ikone des letzten Jahrhunderts. Das Sichtbarwerden der Schenkel signalisierte, dass man am Ziel seiner Wünsche angekommen war. Von Marlene Dietrich im Blauen Engel bis zur Serie Mad Men, die in den Sechzigerjahren spielt, ist der Straps zur Kurzformel für das Liebemachen geworden. Mehr als ein Strumpfband bekommt man nicht zu sehen, aber das sagte zwischen Diderots Jacques le Fataliste – von dem man gesagt hat, es sei ein endloser Roman über ein Nichts, das Strumpfband – und Mad Men alles. Aufgabe des Rocks war es, das Bein nur bis zu einem bestimmten Punkt bloßzulegen und das Geschlecht zu verhüllen. Diese Funktion ist bei denBeinen, die über den Washington Square laufen, irrelevant geworden. Das weibliche Geschlecht ist als Schamzone aus dem Blick geraten.
    Was da weit ausschreitend, bestimmt auftretend über den Platz geht, ist eine neue Art von Bein, das seit gut zehn Jahren das Straßenbild bestimmt. Bisher sind alle Versuche, diese Silhouette durch eine andere zu ersetzen – Schlaghosen, länger werdende, das Knie umspielende, schwingende Röcke – fehlgeschlagen. Dass Plisséröcke in den Pastellfarben der Sechziger und im Vespa-Setting (etwa von Prada) an die Frau gebracht werden sollen, zeigt mehr als alles andere, dass der Rock jetzt als Zitat, als Vintage, wiederkommt. Deswegen kann man umso koketter mit
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