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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Autoren: Alexandra Tobor
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Spielen«, forderte Oma. »Beeilen Sie sich. Draußen warten noch andere Gören, die Jod spucken wollen.«
    Auf dem Gang sprach Oma kein Wort mit mir. Als wir draußen waren, setzte sie mich auf einen Stromkasten, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sie musterte mich mit zornglühenden Augen, über denen mir ihre dunkel nachgezogenen Brauen drohten.
    »Für dich kaufe ich in der DDR nichts mehr. Ab jetzt trägst du nur noch die Kratzpullover von Tante Maria. Und sagte ich schon, dass zu Hause ein Teller Kuttelsuppe auf dich wartet?« Das war zu viel für einen Tag. Ich ließ mich gekonnt vom Stromkasten fallen, auf den Asphalt und in den Tod.
    Zu Hause gab es Kuttelsuppe und Stubenarrest. Oma führte mich in die Küche ab, wo meine Mutter sich vom pfeifenden Wasserkessel, von der tickenden Eieruhr und schäumenden Töpfen herumkommandieren ließ. Ein langer, dicker Zopf pendelte über ihrem Bauch. Im Bauch wohnte mein Bruder Tomek und harrte ohne Hose und ohne Licht seiner baldigen Geburt. Ich hatte schon eine Weile grummelnd auf dem Hocker gesessen, als mein Vater die Küche betrat. Er trug einen ausgewaschenen Trainingsanzug und eine dunkle Hornbrille, hinter der seine Augen klein wie Stecknadelköpfe waren. Von seiner Hand baumelten Mamas Schuhe. Er hatte sie gerade fertig repariert und präsentierte ihr das Ergebnis. Mama war begeistert. Aus einem Fahrradschlauch hatte Papa Gummibänder geschnitten, die Mamas Füße an die Sohle fixierten.
    Mein Vater war Ingenieur in einer Kohlengrube und konnte alles reparieren, was nur kaputtgehen konnte. Alles, bis auf Mamas Schuhe, die immer und immer wieder aus allen Nähten platzten. Mama hatte angeblich die größten Frauenfüße Polens, auch wenn ich noch nicht weit genug herumgekommen war, um das zu überprüfen. Opa Adelbert, der zu Lebzeiten auf seinem Mofa alle Woiwodschaften bereiste, hätte bestätigen können, dass weit und breit kein Schuhgeschäft existierte, das Mamas Größe führte. Wenigstens hatte ihr einziges Paar Sandalen vorn und hinten Öffnungen, die der überschüssigen Zehen- und Fersenmasse erlaubten, sich weit herauszulehnen.
    »Gott sei Dank!«, rief Mama. »Dann können wir heute doch noch ins Theater!« Sogleich drehte sie sich zu mir, um den Glanz meiner Augen zu dimmen. »Tut mir leid, Würmchen. Dich nehmen wir diesmal nicht mit. Oma ist sehr gekränkt wegen dem Kleid. Zur Strafe bleibst du heute mit ihr zu Hause.«
    Oma war halb Mensch, halb Besen. Sie wischte hinter jedem ihrer Schritte her. Krümel, Staub und Flusen waren ihr ein Graus. Das Leben und der Schmutz, den es hervorbrachte, betrübten sie zutiefst. Selbst Sonnenflecken und kleine Schatten mussten ihr Schrubben fürchten. Tiere durften nichts ins Haus, Kinder nicht aufs Sofa. Wenn meine Eltern mich mit Oma alleine ließen, kitzelte sie mich mit dem Staubwedel nach draußen, wo die Spuren, die meine Existenz hinterließ, weniger sichtbar waren. Doch heute schloss Oma mir das Gästezimmer auf, denn sie hatte eine Aufgabe für mich. »Ich gehe in den Garten, Unkraut jäten«, sagte sie und drückte mir einen Kamm in die Hand. »Du bleibst hier und kämmst die Teppichfransen. In einer Stunde bin ich wieder da, mach’s fein!«
    Die einzigen Gäste, die ich in Omas Prunkzimmer je angetroffen hatte, waren drei ausgestopfte Tiere; ein Reh, ein Frettchen und eine Wildente. Oma respektierte die steifen Geschöpfe, weil sie eine Qualität hatten, die ihre Freunde, Bekannten und Verwandten vermissen ließen: Sie bewegten sich nicht, krümelten nicht, und ihre Hinterteile machten keine Dellen ins Sofa.
    Als ich mit den Fransen fertig war, drehte ich den Schlüssel der Schrankschublade um. Dort lag seit Jahren dasselbe Tütchen mit versteinerten Marzipanstücken. Sie waren zwar zu hart zum Essen, aber zum Spielen gerade richtig. Aus den einzelnen Teilen von Schweinen, Schornsteinfegern und Schneemännern konnte man mit etwas Spucke nach Belieben neue Figuren zusammensetzen. Als mir das Spiel langweilig wurde, öffnete ich die Balkontür und trat hinaus. Dafür, dass der Abend nahte, war es noch recht warm. Lang gezogene Wolken schwammen träge über Wiesen, Äcker und Felder. Die Schlote der stillgelegten Ziegelei und die geringelten Türme der Bleihütte ragten zwischen den Pappeln am Horizont auf. Es gab nicht viele Häuser in der Umgebung. Vom Balkon aus konnte ich fünf Würfel zählen, die zerstreut in der Ödnis standen. Unser Haus war wie die meisten Häuser hier ein zweistöckiger
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