Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
Vom Netzwerk:
 
    Ich schlafe, und im Schlaf bin ich mir sicher, dass ich in einem Haus am Strand aufwache, in dem ich mit der Frau, die ich liebe, die Nacht verbracht und Augenblicke vollkommenen Glücks erlebt habe. Das Geräusch der Wellen hat erst das Wachsein begleitet, dann den Schlaf, du liegst in meinen Armen, und unsere Körper wärmen einander.
    Doch als ich aufwache, befinde ich mich in einem Pariser Hotelzimmer, und obwohl mir rasch bewusst wird, dass es ein Traum war, höre ich immer noch das leise Klatschen der Meereswellen.
    In Paris gibt’s doch gar kein Meer!
    Eine unbestreitbare Wahrheit, und schon höre ich den Straßenlärm der Metropole anschwellen.
    Es ist zwanzig nach sieben. Der Wecker ist auf acht gestellt, aber wie so oft in letzter Zeit bin ich aufgewacht, bevor der Wecker klingelte. Heute ist das allerdings weniger mysteriös als sonst. Als ich gestern Abend ankam, war ich müde von dem anstrengenden Tag und von der Reise, also bin ich schon gegen zehn ohne Abendessen ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Wenn ich abends nichts esse, ist das, als würde ich fasten: Ich wache bereitwilliger auf, in Vorfreude aufs Frühstück.
    Vermutlich ist der wahre Grund für dieses vorzeitige Erwachen aber die Verabredung, die ich heute habe. Die wichtigste Verabredung meines Lebens. Ich weiß nicht, was genau passieren wird, es ist genauso geheimnisvoll und aufregend wie früher am Weihnachtsmorgen, wenn es draußen noch dunkel war und ich aus dem Bett sprang, um zu sehen, ob die Geschenke über Nacht gebracht worden waren. Aber jetzt bleibe ich im Bett liegen, verpackt und eingewickelt in Gedanken. Ich stehe nur auf, um die Vorhänge zu öffnen, dann schlüpfe ich gleich wieder unter die Decke. Ich liebe die Wärme nach dem Aufwachen und bleibe gern darin liegen. Sie hilft dabei, mich mit dem anzufreunden, was mich erwartet. Ich schaue aus dem Fenster und bewundere den Himmel und die Dächer von Paris. Ein paar Wolken ziehen schnell vorbei. Ich ordne meine Gedanken und betrachte mein Leben. Morgens bin ich mir sehr nah. Viel näher als abends. Wenn ich ins Bett gehe, denke ich auch oft nach, aber mit den Jahren habe ich festgestellt, dass ich morgens nachsichtiger mit mir bin. Gelassener. Wenn ich vor der Zeit aufwache, bleibe ich noch liegen und lausche auf all die kleinen Geräusche. Auch auf die in mir. Die im Haus, manchmal die der Nachbarn oder die von der Straße. Heute sind alle Geräusche neu. Türen, die geschlossen werden, Wasserhähne, die im Nebenzimmer laufen, fremde Sprachen auf dem Flur. Was ich zunächst für das Meer gehalten habe, ist in Wirklichkeit eine Kehrmaschine. Dieses Hotel wacht früh auf.
    Der Wecker klingelt. Ich beschließe aufzustehen. Dusche und ziehe mich an. Es ist September. Der 16., um genau zu sein. Ich schaue aus dem Fenster, kann aber nicht erkennen, ob sich das Wetter ändert und es regnen wird. Wenn ich früher unbedingt wissen musste, wie das Wetter wird, habe ich immer meine Oma gefragt. Sie lag nie daneben. Ihr Standardsatz lautete: »Mir tun die Beine weh, also regnet’s morgen.« Und prompt regnete es am nächsten Tag. Als Kind hatte ich eine kleine Madonnenstatue, die je nach Wetter die Farbe änderte, doch Omas Beine waren noch unfehlbarer als die Madonna.
    Ich öffne das Fenster. Es ist nicht besonders kalt, aber ich nehme trotzdem einen Pulli mit.
    Meine Mutter hat mir vor ein paar Monaten einen Trockner geschenkt. Seitdem wird bei mir zu Hause die Wäsche nicht mehr aufgehängt. Dafür laufen jetzt meine Kleider ein. Das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, reicht nur noch bis zum Nabel, und die Unterhose, die ich gerade angezogen habe, zwickt. Das Gerät trocknet und kürzt. Ich freue mich trotzdem darüber, weil jetzt meine frühere Methode ausgedient hat. Da warf ich die Kleidungsstücke noch in einem Haufen auf den Wäscheständer, wo sie im Verlauf einer Woche etappenweise trockneten – erst ein Ärmel, dann der Kragen und irgendwann der Rest. Schlimm ist, wenn man in solcherart getrockneten Klamotten schwitzt. Das stinkt dann wie nasser Hund.
    Statt im Hotel zu frühstücken, suche ich lieber einen meiner Lieblingsorte auf, Le Pain Quotidien. Da ich in der Nähe des Centre Pompidou wohne, beschließe ich, einen Spaziergang zur Rue des Archives zu machen, in der sich das Lokal befindet. Le Pain Quotidien ist eine Kaffeehauskette, die es überall auf der Welt gibt. Jeder Laden ist gleich eingerichtet, alles ist aus Holz: Fußboden, Tische, Stühle,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher