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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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    Die Leitstelle meldete sich um 02:47, gerade als Max fand, dass es Zeit für einen Kaffee wäre. »Blitz für NAW 4305 von Florian Berlin, bitte kommen!« Die Funkleitung knackte und rauschte. »NAW 4305, meldet euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«
    Â»Wo seid ihr gerade?«
    Â»Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt’s?«
    Â»Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«
    Â»Adresse?«, fragte Ella.
    Â»Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«
    Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.
    Â»Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.
    Â»Keine weiteren Angaben.«
    Â»Ist jemand bei der Frau?«
    Â»Unbekannt.«
    Â»Wer hat uns gerufen?«
    Â»Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«

    Max, der Rettungsassistent, schaltete das Blaulicht des NAW ein, warf einen Blick in den Außenspiegel und sagte: »Schnall dich an, Bambi!« Ella legte den Sicherheitsgurt um. Der Daimler Sprinter schoss mit einem Satz vorwärts, beschleunigte schnell auf siebzig, dann auf neunzig. Die Straße war leer, die Fahrbahn schien ihnen entgegenzufliegen. Der warme Asphalt schimmerte silbergrau im Licht der Straßenlampen. Windböen von der Spree trieben Papier und Staubwirbel durch die Scheinwerferkegel, aber als der Wagen über die Marschallbrücke raste, lag das Wasser ganz ruhig im Mondlicht. Der Fluss blieb zurück, gleich darauf glitt der Reichstag vorbei, die Glaskuppel schwach erleuchtet.
    Hinter der mit blauem Neon protzenden ARD-Sendezentrale sprang die Ampel auf Rot, und jetzt schaltete Max auch die Sirene an. Bevor er in die Kreuzung einfuhr, trat er kurz auf die Bremse, beugte sich vor, kein Verkehr von rechts oder links, sodass er wieder Vollgas geben konnte. »Zwei Minuten«, sagte er.
    Vor ihnen lag Unter den Linden zwischen grünen Bäumen, Lichterketten, Neon und Schaufensterglanz. Auf der anderen Seite die angestrahlte Fassade des Hotel Adlon , daneben Polizisten mit Maschinenpistolen, die vor der Britischen Botschaft Wache standen. Über den weißen Säulen des Brandenburger Tors der Mond mit einem hellen Hof im tiefen Sommernachtblau.
    Max drosselte das Tempo nicht, fuhr geradewegs auf die mit roten Leuchtstreifen gekennzeichneten Eisenpoller zu. »Bremsen! «, rief Ella, aber er dachte nicht daran, und in letzter Sekunden versenkten die Polizisten die beweglichen Eisenpoller im Straßenbelag, gaben die Durchfahrt in die Wilhelmstraße frei.
    Ella spürte, wie der scharfe Klang der Sirene über ihrem Kopf auf ihr Zwerchfell drückte. »Drei Minuten«, sagte Max. Ein Doppeldeckerbus, leer bis auf den Fahrer, hielt am Rinnstein, damit sie vorbeikonnten, jetzt noch schneller, hundert, hundertzwanzig
unter den blassen, windgeschüttelten Lampen, und die ganze Zeit dachte Ella an die verletzte Frau und dass sie vielleicht zu spät kamen; dass sie gerade starb. Das war ihre größte Angst, zu spät zu kommen, nichts mehr für die Frau oder den Mann oder das Kind tun zu können, zu dem sie gerufen wurden. Sie spürte, wie auch ihr Puls nach oben schoss, auf hundertvierzig, hundertsechzig. Das Blut schien durch ihre Adern zu rasen, schnell und heiß an den Handgelenken, den Schläfen.
    Die Kreuzung Leipziger Straße tauchte auf, verwaist und groß wie ein Tennisplatz aus Asphalt, behütet von roten Ampeln im Schatten des Finanzministeriums, früher die Treuhand, und niemand von rechts, niemand von links, nur die schimmernden Hochhäuser des Potsdamer Platzes, und hinter der Kreuzung wieder einsame, breite Fahrbahnen, leer bis auf eine schwarze Luxus-Limousine mit getönten Scheiben und arabischem Nummernschild.
    Ella hielt sich am Türgriff fest. Ihr rechter Fuß trat die Fußmatte gegen den Boden, bis die Zehen schmerzten, gib Gas, dachte sie, gib Gas, weg da, Araber, weg da, Taxi, Ampel, werd grün! Plötzlich scherte ein Skoda aus einer Reihe geparkter Fahrzeuge, ohne auf Blaulicht oder Sirene zu achten.
    Max
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