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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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statt nach Trinidad/Colorado lieber nach Lawrence/Massachusetts wendet. – Besuch bei Mr. & Mrs. Pfefferkorn. Liebe, alte Freunde, übrigens auch mit spiritistischen Neigungen. Herr Pfefferkorn hat sogar ein Automobil. Mit dem kann man Ausflüge in die hügelige Gegend unternehmen, ohne aufs Pferd steigen und seinen Hals riskieren zu müssen.
    In Lawrence wird May auch einen Vortrag halten. W ER SIND WIR? W OHER KOMMEN WIR? W OHIN GEHEN WIR? – die deutsche Gemeinde wird ganz Ohr sein. Der Herr Franz könnte sich unter die Autogrammjäger mischen, aber wer weiß, ob das May recht ist? – Was,
Sie
, Kafka? Woher kommen Sie? Was zum Teufel wollen Sie? Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, gehen Sie!
    Nein, Lawrence ist nicht der Ort für die klärende Aussprache. Aber wie wärs mit dem Indianerreservat, das auf der Reiseroute der Herrschaften May denn doch nicht fehlen darf? Tuscorora. Ein Irokesenstamm. Ganze vierhundert Seelen sind noch davon übrig.
    Also die Tuscorora. Sie liegen günstig. Sie liegen sozusagen fast auf dem Weg. Sehr zum Unterschied von den, zugegeben, attraktiveren Stämmen, die in Mays Werken vorkommen. Wie war das gleich, Schätzle? Haben wir nicht auch einen Sprung ins Reservat der Tuscorora geplant?
    Sie konnte sich das so hübsch vorstellen, die Frau Klara. Wie sie Erinnerungsfotos schießen würde. Vor einem Zelt der Häuptling der Tuscorora und ihr Mann. Und auf dem nächsten Bild der Häuptling, ihr Mann und der Herr Franz. Der Häuptling, ihr Mann und sie (dieses Foto müßte der Herr Franz knipsen). Und sie, der Herr Franz und der Häuptling, was spricht eigentlich dagegen? Komm doch, Schätzle, sei jetzt kein Spielverderber! Schließlich der Häuptling, der Herr Franz und ihr Mann, wie sie die Friedenspfeife rauchten.
    Sie hätte auch jetzt schon gerne Fotos gemacht. Schließlich fährt man nicht jeden Tag an der Freiheitsstatue vorbei. Nur dumm, daß es regnete. Zuvor war es leider noch zu dunkel gewesen. Und jetzt, da es hell genug geworden war, mußte es zu regnen anfangen!
    Auch May bedauerte diese Wetterlage. Das Orchester in seinem Kopf hatte den Schlußsatz der Symphonie A US DER N EUEN WELT fast zu Ende gebracht. Die riesige Durchführung und die vielgliedrige Reprise. Und jetzt, beinah schon an Land, mußte es ihm die verklärende Stretta verregnen.
    Am betroffensten aber war der Herr Franz. Mit einem Mal war ihm klar, warum er sich die ganze Zeit so unbehaglich gefühlt hatte. Die Melone auf dem Kopf, den Koffer hatte er links neben sich hingestellt. Aber rechts hatte ihm etwas gefehlt. Jetzt ging ihm auf, daß es der Schirm war.
    Mein Schirm, sagte er mit Grabesstimme. Ich habe unten im Zwischendeck meinen Schirm vergessen.
    Kommen Sie unter meinen, sagte Frau Klara. In New York kaufen Sie sich einen neuen.
    Sie meinen es gut, sagte der Herr Franz, aber das kann ich nicht machen.
    Wieso?
    Dieser Schirm ist mir absolut unersetzlich!
    Unsinn, sagte Frau Klara.
    Doch doch, sagte der Herr Franz. Es handelt sich nämlich um einen Schirm aus dem Geschäft meines Vaters. Sozusagen mein einziges Andenken an ihn … Würden Sie wohl so freundlich sein und einen Augenblick auf meinen Koffer aufpassen?
    Ein Argwohn erfaßte Frau Klara: Wo wollen Sie hin, Herr Franz?
    Ich will nur hinuntersteigen und meinen Schirm suchen.
    Gehen Sie bitte nicht, Franz!
    Aber warum denn nicht?
    Weil – weshalb klang ihre Stimme bloß so dramatisch? – weil Sie sich da unten verirren könnten!
    Wieso denn verirren?
    Ich ahne es. Tun Sie nicht so, als ob Sie es nicht auch ahnten.
    Laß ihn doch, sagte May. Er muß schließlich wissen, was er tut.
    Wissen
Sie, was Sie tun?
    Der Herr Franz gab keine Antwort.
    Ach Franz! sagte die Frau Klara. Ich fürchte, dann müssen wir uns verabschieden.
    Vielleicht haben Sie recht, sagte Kafka, schon halb und halb abwesend. Ich könnte mich unten verirren. Warum eigentlich nicht?
    Dann umarmen Sie mich gefälligst, sagte Frau Klara.
    Ich bitte dich, Klärchen, sagte May. Jetzt mach keine Szene!
    Ja, dachte Kafka erleichtert, ich
werde
mich verirren. Zu meinem Bedauern werde ich einen Gang, der meinen Weg sehr verkürzen würde, zum ersten Mal versperrt finden. Mit der Ausschiffung der Passagiere könnte das zusammenhängen – über mir werde ich das Scharren tausender Menschenfüße hören. Ich aber werde meinen Weg über Treppen, die einander immer wieder folgen, durch fortwährend abbiegende Korridore und schließlich durch ein leeres Zimmer mit einem verlassenen
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