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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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    Er würde sehr schmal an der Reling stehen und kotzen. Der ältere Herr und die Dame würden sich ihm von achtern nähern. Der Wind würde wehen, die Wellen würden wogen, die Möwen würden lachen. Eine Sirene stieße einen klagenden Ton in den Abend.
    Auf dem Vorschiff. Die beiden Herrschaften kämen aus dem inneren Zwischendeckbereich. Der Herr hätte der Dame durchaus zeigen wollen, wie er 1864 oder ’65 gereist wäre. Wie er damals gereist wäre,
wenn
, wenn
nicht …
Wenn ihn nicht gewisse Umstände daran gehindert hätten.
    Sehr anders als heute wäre er damals gereist. Zwar sei die Unterbringung der Auswanderer, auf diese Feststellung hätte ein sogenannter Zwischendeckinspektor Wert gelegt, ohnehin schon viel besser als, sagen wir, noch vor fünfzehn Jahren. Ganz zu schweigen von 1864 oder ’65. Aber über den Zwischendecktransfer seien nach wie vor die schlimmsten Schauermärchen in Umlauf. Bitte, beachten Sie etwa die hygienischen Verhältnisse! Es mag sein, daß auch heute ein großer Teil der hier untergebrachten Passagiere in einem Bade eher eine ärztliche Verordnung erblickt, der man nicht entrinnen kann, als ein sozusagen zivilisiertes Bedürfnis. Aber die Zeiten, zu denen man die Auswanderer einfach mit dem Schlauch abgespritzt hat, sind vorbei. Wie Sie sehen, sind Wasch- und Badeeinrichtungen in, ich würde meinen, ausreichendem Ausmaß vorhanden. Auch, überzeugen Sie sich, Toilettenanlagen. Laut Gesetz vom 9. Juni 1897 müssen sie in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, daß nicht mehr als fünfzig männliche beziehungsweise weibliche Personen sich im Gebrauch eines Abtritts arrangieren. Die Decken- und Kissenbezüge werden selbstverständlich nach jeder Reise desinfiziert. Sehen Sie, um das Geld, um das die Leute hier unten transportiert werden wollen, kann man natürlich keinen Luxuskomfort erwarten.
    Natürlich
nicht, hätte der ältere Herr gesagt. Die Dame hätte sich ein Ende ihres Seidenshawls vor Nase und Mund gehalten. Dieser Karbolgeruch sei nur schwer zu ertragen. Als sie aus den laut Auskunft des Zwischendeckinspektors mit 2200 Passagieren voll ausgelasteten Räumen hinaus unter den immerhin freien Himmel getreten wären, hätte übrigens auch der Herr an ihrer Seite aufgeatmet.
    Aber da stünde der junge Mann an der Reling. Seine Haltung: die Charlie Chaplins am Anfang des Stummfilms T HE I MMIGRANT . Extrem abgewinkelt. Er zappelt und windet sich in wüsten Konvulsionen. Ist dem nur schlecht, fragt die Dame, oder will er sich, Gott behüte, ins Meer stürzen?
    Der Chaplin-Film wird erst neun Jahre später gedreht. Aber
jetzt
muß man was tun, findet die Dame, man kann doch nicht einfach nur dastehen und zuschauen. Tu doch was, Karl! – Der ältere Herr blickt sich vorerst kurz um, schließlich wäre eigentlich das Schiffspersonal für so etwas zuständig. Aber den Zwischendeckinspektor haben sie irgendwo im Getümmel verloren, und auch sonst ist niemand von nur einigermaßen offiziellem Anschein in der Nähe.
    Da gibt sich der ältere Herr einen deutlichen Ruck. Und tut zwei seinem Alter nicht mehr ganz gemäße Sprünge. Faßt den jungen Mann an der Schulter (na schön, vielleicht stützt er sich auch ein ganz klein wenig an dessen Schulter ab). Und: He, junger Mann, würde er sagen, passen Sie auf, beugen Sie sich nicht zu weit vor, da unten, das ist der Atlantik!
    Als Chaplin, in diesem Film, sich endlich den Zuschauern zuwendet, hat er einen Fisch gefangen, und die Sorge, die man zuvor um ihn gehabt hat, entlädt sich in einem befreienden Lachen. Davon wird bei dem jungen Mann, der sich jetzt umdreht und alles hängen läßt, gewiß keine Rede sein. Lassen Sie mich, wird er antworten, sehr leise, sehr matt, sozusagen zu schwach für ein Rufzeichen nach dieser Aufforderung. Von vorn würde er übrigens eher aussehen wie Buster Keaton.
    Außerdem sieht er ziemlich zerknittert aus. Obwohl oder gerade weil er, das fällt der Dame gleich auf, für einen Zwischendeckpassagier zu gut gekleidet ist. Auch seine Augen fallen ihr gleich auf, seine Ohren sind ohnehin nicht zu übersehen. Nehmen Sies nicht so schwer, sagt sie, nehmen Sie sich zusammen, sagt ihr Mann, hier, nehmen Sie mein Taschentuch.
    Der junge Mann sagt danke und wischt sich ab. Dann steht er und schwankt. Was soll er nun mit dem Taschentuch, das nicht ihm gehört, anfangen? Sein Visavis hat weißes, vom Wind verblasenes Haar, etwas tränende, wasserblaue Augen und einen Schnauzbart, in dem Salzwassertröpfchen
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